Wer von einer Reise nicht voller Zweifel zurückkehrt, hat nichts verstanden. Ob diese Behauptung stimmt, mag dahingestellt sein, es handelt sich ja nur um die Aussage einer fiktiven Figur. Matthias Politycki, der freilich als „Weltreisender unter den Autoren“ gilt, legt sie in seinem neuen Roman „Alles wird gut – Chronik eines vermeidbaren Todes“ einem äthiopischen Touristenführer in den Mund.

Sollte diese These jedoch zutreffen, so lässt sie über die von scheinbaren moralischen Gewissheiten nur so triefenden Debatten unserer Zeit zwei Rückschlüsse zu: Entweder fehlt es an Reisenden oder aber an solchen, die in der Lage sind, das Erlebte auch auf zweifelnde Weise zu verstehen.

Josef Trattner ist österreichischer Archäologe und Grabungsleiter an einer antiken Stätte in Äthiopien. Jetzt will er das Hinterland kennenlernen, das ursprüngliche Leben in abgelegenen Dörfern, wo Männer noch Blut aus Rinderhälsen trinken und Frauen Lippenteller tragen. In jene Region also, die so klischeehaft geworden ist für noch heute verbreitete – und zu Recht kritisch hinterfragte – Vorstellungen vom afrikanischen Kontinent. Seine beiden Projektmitarbeiter Mulugeta und Weraxa packen ihn in den Geländewagen und fahren los.

Schon bald bekommt der vermeintlich zivilisierte Mitteleuropäer beim Stamm der Suri vermeintlich wilde Bräuche zu sehen: Eine stolze Dorfbewohnerin widersetzt sich allen Erwartungen der Gemeinschaft, trägt partout keinen Lippenteller, bandelt dafür aber mit dem Weißen aus Österreich an – und wird deshalb mitten auf dem Dorfplatz verprügelt, bis das Blut spritzt. Trattner ist schockiert und beeindruckt zugleich.

Die junge Frau namens Natu nämlich hat mit einem Stock bewaffnet den männlichen Gegnern Paroli geboten, weder scheint ihr der Vorgang eine neue Erfahrung zu sein noch wirkt sie von der Bestrafung eingeschüchtert. Ist, was dem Europäer so archaisch anmutet, etwa nur eine andere Form der Konfliktlösung?

Matthias Politycki: „Alles wird gut – Chronik eines vermeidbaren Todes“, Roman, Verlag Hoffmann und Campe, 2023. 409 ...
Matthias Politycki: „Alles wird gut – Chronik eines vermeidbaren Todes“, Roman, Verlag Hoffmann und Campe, 2023. 409 Seiten, 19,99 Euro. Am 25. Mai liest der Schriftsteller in der Stadtbücherei Ravensburg. | Bild: Hoca

Umgekehrt stellt sich bald heraus: Der scheinbar seriöse Herr Projektleiter aus Wien ist in Wahrheit ein Hallodri. Als Performance-Künstler gestartet, wurstelte er sich über Beziehungen ins Ausgrabungsgeschäft, gelangte irgendwie zu Fördermitteln und Weiterempfehlungen. Lange schaute niemand richtig hin, aber das ist jetzt vorbei. Erst kürzlich nämlich hat die Institutsleitung beschlossen, doch mal nach dem Rechten zu sehen. Wenig später war der österreichische Luftikus von der Projektleitung entbunden, die Tour übers Hinterland ist für ihn so etwas wie eine Abschiedsreise.

Und auf der sitzt die stolze junge Frau schon bald mit auf der Rückbank des Geländewagens. Mehr noch: Sie liegt bei Trattner im Zelt. Stumm und regungslos. Was geht hier vor? Gute Frage.

Trattner sucht die Antwort in seinen Erfahrungen der vergangenen Jahre. Zu Hause schien zuletzt alles immer komplizierter zu werden, dabei aber gleichzeitig immer klarer: kompliziert, weil seine Frau Lena sich immer mehr zur überzeugten Feministin entwickelt hat, die Beziehung zusehends belastet war von Sexismusvorwürfen, Gender-
theorien, Gleichberechtigungsappellen. Klar hingegen insofern, als damit zwar neue, aber immerhin eindeutige Definitionen von Verantwortung, Gerechtigkeit, Respekt zur Hand waren.

Liebe sucht sich Wege

Nein, diese Frau mag tagsüber freundlich zu ihm sein, höflich in sein Lachen einstimmen und manche flüchtige Berührung dulden. Mehr aber steckt nicht dahinter: Der Fremde aus Europa ist für sie nur eine willkommene Mitfahrgelegenheit auf dem Weg in ein freies, selbstbestimmtes Leben. Mag sich in seiner andächtigen Bewunderung auch noch so stark die Empfindung von Liebe melden: Er darf ihre Nähe auf keinen Fall fehlinterpretieren.

Doch Liebe sucht sich ihre Wege. Und sind auch sonst alle verstellt, findet sie welche zumindest in den Gedanken. Während Trattner atemlos neben der schlafenden Natu liegt, erst eine Nacht, dann eine zweite, eine dritte, malt er sich aus, wie das wäre: Raus aus der von so viel Theorie belasteten Beziehungshölle in Wien. Neu anfangen mit dieser faszinierenden, geheimnisvollen Frau, natürlich nicht in ihrem Dorf, aber in der Hauptstadt Addis Adeba vielleicht... Vergiss es!

Oder ist das Gegenteil richtig? Liegt er womöglich falsch mit seinen Skrupeln?

Matthias Politycki gilt als Weltreisender unter den deutschsprachigen Autoren.
Matthias Politycki gilt als Weltreisender unter den deutschsprachigen Autoren. | Bild: Volker Derlath

Als Mulugeta und Weraxa erfahren, dass er all die Nächte neben einer Frau gelegen hat, ohne mit ihr zu schlafen, können sie es kaum glauben. „Joe, du hättest sie haben können, jede Nacht. Was hätte sie denn noch tun sollen, um dir das zu zeigen?“ Na ja, antwortet Trattner verlegen: Sie wollte ihn ja nicht einmal küssen! „Wer küsst denn auch schon bei den Suri? Mit Lippenteller geht‘s nicht, ohne geht‘s auch nicht.“ Ja, die Jüngeren, die Handys besitzen und irgendwelche Videos aus Hollywood sehen: Die wüssten wohl, was küssen heißt. Aber doch nicht eine Frau wie Natu!

Die Frage ist, ob das jetzt stimmt. Und ob er ihr Abschiedsgeschenk, einen Armreif richtig interpretiert als Aufforderung, um sie zu kämpfen. Liebe, sagt Weraxa, sei in dieser Gegend etwas anderes „als bei euch zu Hause“. Das, was in Europa als romantisch gilt, kenne man hier so nicht. Da solle sich Trattner mal gar nichts vormachen.

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Nur wenige deutschsprachige Autoren haben sich zuletzt so öffentlichkeitswirksam an der identitätspolitischen Linken gerieben wie Matthias Politycki. Sogar umgezogen ist er deshalb, fort aus dem moralinsauren Hamburg ins – wie er es wahrnimmt – gelassenere Wien. Mit „Alles wird gut“ wirft er jetzt gleich mehrere politisch heikle Themen auf einmal in die Luft und schaut genüsslich dabei zu, in welcher völlig neuen Ordnung sie wieder auf dem Boden landen: Feminismus, Sexismus, Postkolonialismus, kulturelle Aneignung.

Das ist nicht allein wegen der ständigen wohlkalkulierten Nähe zum Tabubruch spannend, sondern auch, weil Politycki seinen Protagonisten in seinen Sehnsüchten und Irrtümern mit zarter Ironie porträtiert. Und je weiter der Leser ihm auf seiner Reise durch die Reizthemen unserer Gegenwart folgt, desto mehr ergeht es ihm wie dem armen Josef Trattner: Je mehr er versteht, desto größer werden die Zweifel. An gängigen Moralvorstellungen, an vermeintlichem Fortschritt, an politischen Einschätzungen. Nur eines scheint früh gewiss: dass entgegen dem anderslautenden Titel ganz und gar nichts gut werden kann.

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