Bereits mit zwölf Jahren schrieb Martin Walser erste Gedichte, inspiriert von Hölderlin, Schiller und Swedenborg. Schwere Kost für einen Jüngling, die er teils auf dem Dachboden des elterlichen Hauses in Wasserburg fand. Aber diese Bewertung gilt nur bedingt für den frühreifen Leser Martin, der einen „Wörterbaum“ pflegte, angeleitet von seinem Vater.

Die Lyrik war/ist ihm, wie er anlässlich der Veröffentlichung des Balladenbandes „Das geschundene Tier“ (2007) bekannte, mehr als nur eine „pubertäre Überlebensstrategie“, sondern „höchste Frequenz der Sprache“. Dass sich der Schriftsteller Walser später auf das Scheiben von Romanen, Novellen und Erzählungen konzentriert habe, sei ein „Zwang“ gewesen, ein „Resignationsabsturz“. Er habe nichts „verächtlicher und unbeträchtlicher und vernachlässigungswerter“ gefunden, als einen Satz Prosa zu schreiben.

Natürlich äußert sich hier der Übertreibungskünstler Walser. Einerseits. Andererseits wusste/weiß er, dass am Ende des Tages sein Prosawerk von „Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten“ (1955) bis zum „Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf“ (2022) in den literarischen Olymp einziehen wird. Und das zurecht.

Eine andere Wahrheit ist, dass mit Lyrik allein nur schwer ein Haus und eine Familie zu finanzieren sind. Gedichtbände sind im Buchhandel ein Nischenprodukt. Wohl nicht zufällig verweigerte Walser seinem Lyrikband „Sprachlaub oder: Wahr ist, was schön ist“ (2021) die Genrebezeichnung. Stattdessen heißt es im Klappentext erfinderisch „Augenblickspoesie“. Und es gibt noch eine dritte Wahrheit: Der Lyriker Martin Walser war/ist „eher klassisch als modern, eher traditionell als stilbildend“.

Das notiert Klaus Isele in der Nachbemerkung zum neuen Walser-Buch „Fisch und Vogel lassen grüssen. Hiesige Gedichte“, die der Verleger aus veröffentlichten Texten gemeinsam mit dem Autor zusammengestellt hat. Iseles Feststellung ist nicht despektierlich gemeint, vielmehr unternimmt er den Versuch, die lyrische Produktion im vielstimmigen Gesamtwerk Walsers einzuordnen.

Wir wissen: Der Prosaiker vom Bodensee war/ist immer für Experimente offen und zählt unstrittig zu den wichtigsten und prägendsten Repräsentanten der deutschen Nachkriegsliteratur. Zuletzt lotete er in der „Legende“ genannten Erzählung „Mädchenleben oder Heiligsprechung“ (2019), virtuos die Grenzen des Erzählens aus.

Schatz aus den Tiefen des Bodensees

Es ist aber auch kein Widerspruch, wenn Isele, der etliche Bücher Walsers verlegt hat, in der zitierten Nachbemerkung von den Gedichten als einen „literarischen Schatz“ spricht, der lange darauf gewartet habe, „aus den Tiefen des Bodensees ins Licht der Öffentlichkeit gehoben zu werden“. Dass der Gedichtband jetzt erscheint, ist kein Zufall. Er darf als Geschenk zum 96. Geburtstag verstanden werden, den der „Patron“, wie ihn seine Gemeinde am See nennt, heute im Familienkreis in Überlingen-Nussdorf begeht.

„Fisch und Vogel“, enthält auf 76 Seiten gegen 50 Gedichte, auch Mundart, ausschließlich Bekanntes und Vertrautes, aber – eben – fokussiert auf das Momentum „Hiesige“. Und das meint die „lyrische Vermessung der Bodenseelandschaft“ (K. Isele), Walsers lebenslange Lebenslandschaft. Das bedeutet reinstes Heimatlob – auch aus dem gleichnamigen Buch von 1978 wurden Gedichte aufgenommen. Beispiele gefällig? Aber wo anfangen? Der Band ist rund und voll von wunderbaren Versen. Und dann ist da noch die walser‘sche Sprache, herrlich leicht, kristallklar wie der See, anmutig und schön.

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Aber bitte: „Und kommen nicht fort / weil die Hügel uns belagern / weil uns die Blüte Wochen kostet / die Kirschen uns Augen machen / der Sommer uns umhaut und umarmt“, heißt es in dem Langgedicht „Hiesiger Lebenslauf“, das Walser dem Freund Heinz Saueressig gewidmet hat.

Dieser knappe Auszug sagt uns, dass er von diesem See nicht wegkommt. Er hat ihn am Haken. Ganz gleich, welches Gedicht wir aufrufen, sein Autor feiert den sanften oder/und silbrigen See, der ihm immer wieder Badefreuden bereitet („Schwimmen heißt Glauben, dass man es kann“) und den er auch in seiner Prosa verewigt hat („Ein fliehendes Pferd“, 1978; „Das Schwanenhaus“, 1982).

Die poetische Messe, die Walser in und mit den Versen zelebriert, gilt den Menschen und der großartigen Landschaft („Bauern leeren, zur Erde gebeugt / den Acker fürs Wintergeschick“), den nahen Bergen, der Sonne und dem Wind, der „mit Harfenfingern spielt“, dem „unbefragbaren Himmelsblau“, den Vögeln, die durchs Gras ziehen. Das lyrische Ich beobachtet Schwäne, die „mit seufzenden Schwingen“ vorbeifliegen, es glaubt bisweilen nicht, was es alles sieht, atmet den „Glanz des Wassers“ und schweigt.

Martin Walser: „Fisch und Vogel lassen grüssen. Hiesige Gedichte“. Mit einer Nachbemerkung von Klaus Isele. Klaus Isele ...
Martin Walser: „Fisch und Vogel lassen grüssen. Hiesige Gedichte“. Mit einer Nachbemerkung von Klaus Isele. Klaus Isele Editor, Eggingen. 76 Seiten, 12,90 Euro. | Bild: Klaus Isele

„Wenn man mich blind in tausend Seen würfe / den kennte ich immer / geliebter See, der das nicht weiß“ heißt es auf Seite 38 des Bandes, diese Miniatur ist den Tagebüchern von 1974-1978 entnommen, die mittlerweile als Vorlass im Literaturarchiv Marbach liegen.

Walser ist in den „hiesigen“ Gedichten, den zärtlichen, kaleidoskopartigen, heiter-melancholischen Beschreibungen seiner geliebten Heimat, immer auch ein scharfsinniger Chronist der eigenen Befindlichkeit: „So fremd wie ich ist mir keiner. / Warum kann ich mich nicht in Ruhe lassen. / Du bist aufdringlich, hörst du. / Der See gleißt immer nur dank wo man selbst hinschaut“. Diesen seismographischen Blick kennen wir auch aus seinen Romanen. Kritiker sprechen in dem Zusammenhang auch von Selbstinszenierung.

Doch damit nicht genug. Alissa Walser, seine Tochter, steuert (einmal mehr) Illustrationen zum Buch bei. Es sind Aquarelle in feinen Farben, Augenblicksbilder, könnte man sagen, die auf die Quellen der poetischen Perlen Walsers verweisen und damit sein Heimatlob kongenial ergänzen. Was für ein Geschenk, das uns Walser/Isele mit diesem Band machen.

Martin Walser: „Fisch und Vogel lassen grüssen. Hiesige Gedichte“. Mit einer Nachbemerkung von Klaus Isele. Klaus Isele Editor, Eggingen. 76 Seiten, 12,90 Euro.