Joachim Schwitzler

Gleich ihre ersten vier Werke auf der linken Seite nach dem Eintritt in den hellen Oberlichtsaal des Kunstvereins Konstanz verweisen deutlich auf sie: die Horizontlinie. Dabei sind diese Werke von Nikola Irmer noch nicht einmal groß – mit je 30 mal 40 Zentimeter Kantenlänge zählen sie zum kleinen Format. Die Malerin präsentiert sie in der Ausstellung in kleinen Serien oder fügt sie mit
anderen kleinen Formaten zu Ensembles, die sie dann wie Inseln zwischen ihre großen Formate platziert.

Die Horizontlinie ist deshalb so wichtig, weil in der Malerei wie in der Fotografie dort Himmel und Erde aufeinander treffen. Die beiden elementaren Flächen werden von der Horizontlinie miteinander verbunden – oder getrennt. Und je nachdem, wie ihre Gewichtung ausfällt, also ob diese Linie höher oder niedriger in einer bildnerischen Komposition steht, desto schwerer beziehungsweise leichter wirkt das Bild in der Betrachtung.

Auch spielen Lichteindrücke und Witterung eine wichtige Rolle: An manchen Tagen scheinen Himmel und Erde miteinander buchstäblich verwoben zu sein, so etwa bei Nebel, tief hängenden Wolken oder dunstiger Fernsicht. An anderen Tagen dagegen erscheinen beide Flächen wie messerscharf voneinander getrennt zu sein – die Linie durchschneidet Oben und Unten konsequent. Für beide Medien, Fotografie und Malerei, bleibt die Horizontlinie daher ein grundlegendes Bildelement und Gestaltungsmerkmal.

Schroffe und karge Landschaften

Es ist diese kurze Serie von vier vermeintlich unscheinbaren Werken im gleichen kleinen Format, die bereits am Anfang der Ausstellung wichtige Akzente setzen. Denn neben der bildnerischen Bedeutung der Horizontlinie verweisen sie zugleich auf weitere prägende Gestaltungsmerkmale für Nikola Irmers Malerei.

Diese betreffen die Schlichtheit der Komposition, die formale Klarheit des malerischen Ausdrucks, die Beschränkung auf wenige Bildelemente. Die schroffen und kargen Landschaften, denen die Künstlerin auf ihren Streifzügen durch das schottische Hochland sowie in den Fjorden Norwegens und im Umland begegnet, spielen Nikola Irmer dabei quasi in die Hände: jeglicher Verzicht auf Schnörkel und Ornamente unterstreichen ihre künstlerische Haltung und persönliche Affinität.

Eine nur auf den ersten Blick friedliche Szene: „Balcony“ (2022).
Eine nur auf den ersten Blick friedliche Szene: „Balcony“ (2022). | Bild: Joachim Schwitzler

All das zusammen führt dazu, dass man beim Betrachten von Irmers Landschaftsbildern kaum anders kann, als davon eingefangen und fasziniert zu werden. Genauer gesagt sind es ihre Interpretationen nordischer Landschaften, die faszinieren. Denn was anderes macht eine Malerei mit einer Landschaft oder einer landschaftlichen Szenerie, als sie zu interpretieren und entsprechend der eigenen individuellen Veranlagung und künstlerischen Haltung auszulegen und darzustellen?

„Cullen“ (2022) zum Beispiel heißt ein solches Werk und es gehört zu den vier kleinen Werken vom Anfang der Ausstellung. Augenscheinlich blickt der Betrachter von einem schmalen Sandstreifen auf das weite offene Meer hinaus, die Brandung vor ihm zeigt wenig Gischt und eine verhaltene Schaumkrone. Die herannahenden Wellen scheinen weich abzurollen und am Sand kurz
auszufließen.

Wenn die Landschaft glaubhaft wird

Ein schmaler Streifen Meer aus dunklem Blau im Übergang zur Horizontlinie mit blaugrauen Wolken darüber, die sich von einem fiktiven Bildmittelpunkt weit zu den Bildrändern sowie diagonal nach oben hin ausbreiten, künden von einem nahenden Wetterumschlag, mit Starkregen und vielleicht auch ein paar Gewittern. Das Bild wirkt so, als ob das Meer buchstäblich zu riechen und zu hören sei, eine anfangs leichte Brise wechselt in einen kräftiger werdenden Wind. Eine Ahnung vom Kommenden vermag die noch vorherrschende Ruhe dieser Szenerie leicht zu überschatten. Dennoch hat dieses Bild nichts Bedrohliches an sich.

Wunden der Vertreibung: „Barn“ (2020). Bild: Schwitzler
Wunden der Vertreibung: „Barn“ (2020). Bild: Schwitzler | Bild: Joachim Schwitzler

Der Eindruck, selbst Teil der dargestellten beziehungsweise interpretierten Szenerie sein zu können, bleibt in dieser Ausstellung nicht auf wenige Werke beschränkt. In seiner Einführung zur Malerei von Nikola Irmer im Kunstverein Konstanz betonte Axel Lapp, der Leiter der MEWO Kunsthalle Memmingen ist: „Malerisches Können zeigt sich, wenn die Landschaft glaubhaft wird; wenn die Farben der Objekte sich mit dem Abstand in Tonalität und Intensität so verändern, wie es unsere Seherfahrungen erwarten lassen; oder wenn die Farbe des Lichts am Himmel mit den Farben des Felsens und des Bewuchses harmonieren.“

Vermeintlicher Frieden

Um Landschaft glaubhaft machen, wählen manche Maler eine eher realistische Darstellung; andere wiederum schränken ausgedehnte figürliche Aspekte formal eher ein. Nikola Irmer dagegen geht noch weiter und hat die Bildsprache ihrer Landschaften sichtbar auf sehr wenige Gestaltungskriterien reduziert; ihre Landschaftsbilder erscheinen trotzdem als reale Anknüpfungspunkte für Wahrnehmungsempfindungen, weil sie sich im Kopf der Betrachter vervollständigen.

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Neben den Landschaftsbildern von Irmer sind allerdings auch solche Werke zu sehen, die lediglich von vermeintlichem Frieden künden, so wie „Balcony“ etwa oder „Ruin“; beide Motive existieren in einem kleinen sowie in einem großen Format. Während „Balcony“ zu den sogenannten „Nutshell Studies“, den „Tatort-Motiven“ von Nikola Irmer zählt und damit einen zweiten Bereich ihrer Malerei in dieser Ausstellung präsentiert, erinnert „Ruin“ an die Vertreibung von lokalen Kleinbauern von ihrem Land in den schottischen „Highlands“ im frühen 19. Jahrhundert durch Jagd und profitable Schafzucht. Es sind die Wunden dieser Vertreibung, die Irmer so eindrucksvoll thematisiert.

Nikola Irmer: „Traces“. Bis 3. Juli 2022, Kunstverein Konstanz, Wessenbergstraße 39/41, Öffnungszeiten: Di-Fr 10-18 Uhr; Sa und So 10-17 Uhr. Weitere Informationen: www.kunstverein-konstanz.de

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