Nach dem Auto ist das zweitliebste Kind der Deutschen augenscheinlich ihr Vorgarten. Diese Vermutung leite ich aus meinen Erfahrungen in den sozialen Netzwerken ab, in denen ich mich seit nunmehr fünf Jahren erdreiste, private Vorgartengestaltungen einer satirischen Kulturkritik zu unterziehen. Auf meiner Seite „Gärten des Grauens“ (Die erste Gartensatire der Welt!) ernte ich damit viele Lacher, aber auch Entrüstung vonseiten Betroffener.

Vermutlich war es genau diese Melange aus Wutkommentaren und der Häme vom Gegenlager, die meinen pointierten Gartenanalysen in der Empörungskultur von Facebook und Instagram zu großer Popularität verhalf. Sicher spielte mir auch in die Hände, dass jeder zweite deutsche Haushalt über einen Garten verfügt. Und ganz gewiss sorgten meine gesammelten Fotos gärtnerischer Ungeheuerlichkeiten aus ganz Deutschland für Aufmerksamkeit. Sie ahnen gar nicht, was es da alles gibt.

Dem Vorgarten fällt in Deutschland eine ganz besondere Rolle zu. Er gilt als Aushängeschild der Familie, sodass hier ganz besonders Wert darauf gelegt wird, dem öffentlichen Auge geordnete Verhältnisse zu suggerieren. Der Anspruch dabei: der Vorgarten sei sauber und ordentlich, er möge bitte keine Arbeit machen. Die lukrative Antwort von Baustoffhandel, Baumarkt und Gartencenter lautet: Schottergarten.

Eine clean wirkende, mit einem Unkrautvlies aus Polypropylen unterfütterte Steinschüttung; sporadisch eingestreute und bis zur Unkenntlichkeit gekünstelte Nadelgehölze in Pompon- oder Fusilliform; eine Einfassung aus akkurat gesetzten Pflanzbetonsteinen nach DIN oder aus Doppelstabmattenzaun mit PVC-Sichtschutzlamellen – optional in Grau oder blaugrün verwitterndem Kirschlorbeerprint; eine stets verwaiste Sitzbank, die soziales Leben vortäuscht; daneben erratisch verteiltes Dekogedöns vom Baumarkt – wahlweise Granitstelen, Buddhaplastiken und Laubsägearbeiten aus Cortenstahl, LED-Funzeln oder grenzdebil grinsende Gehäuseschnecken auf Resinsockel mit „Willkommen“-Schriftzug – all dies sind nur einige wenige Beispiele für die bundesweit immer gleichen Versatzstücke eines hortikulturellen Phänomens namens Schottergarten – eines Gartens als Konfektionsware.

Ulf Soltau ist Biologe und Initiator von „Gärten des Grauens“.
Ulf Soltau ist Biologe und Initiator von „Gärten des Grauens“. | Bild: Paul Zinken

Ob pflegeleichte Gartengestaltung oder Ausgeburt der Spießbürgerlichkeit – man mag über Schottergärten denken, was man will. Dem Museum Europäischer Kulturen in Berlin waren meine belletristischen Einlassungen zum Thema immerhin eine Inventarisierung wert.

Der Schottergarten spaltet die Nation. Die von Verbotskultur Gepeinigten sehen einmal mehr ihre persönliche Freiheit in Gefahr. Jeder könne doch auf seinem eigenen Grund und Boden tun und lassen, was er wolle. Begegnet man diesem Argument mit Artikel 14 GG (Eigentum verpflichtet, Wohl der Allgemeinheit), so folgen Ausflüchte wie: Hinterm Haus sei es ja schon grün, und Bund, Länder und Kommunen versiegelten ja ohnehin viel größere Flächen mit Straßen-, Windrad- und anderen Baumaßnahmen.

Zu guter Letzt hilft das ganz besonders perfide Argument, ein pflegeleichter Schottergarten sei insbesondere für ältere und/oder körperlich eingeschränkte Menschen eine praktische Lösung. Warum das perfide ist? Ich komme darauf zurück.

Sonne heizt den Schotter auf

All diesen Argumenten für den Schottergarten steht eine Fülle von wissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber. Die Negativeinflüsse von weitgehend vegetationsfreien Geröllhalden auf Ökologie und Artenvielfalt, Bodenorganismen, Wasserhaushalt, urbanes Mikroklima, menschliches Wohlbefinden und sogar Gesundheit sind mittlerweile vielfach untersucht und belegt. Als Biologe versichere ich Ihnen: Die Natur kennt keine sterilen Flächen. Selbst frische Lavafelder werden erstaunlich schnell wiederbesiedelt.

Durch Herbstlaub und Anflugsaat verkrautet auch ein Schottergarten mit Unkrautvlies binnen Kürze. In einem homogenen Grau in Grau findet Unkraut aber weit weniger Akzeptanz als in einer naturnahen Pflanzung. Wer dem psychosozialen Druck, einen ordentlichen Garten vorweisen zu müssen, physisch nicht standhält, greift dann zu Herbiziden. Deren Einsatz ist aber lediglich auf gärtnerischen Nutzflächen erlaubt (Gemüsegarten). Rechtschaffenen Menschen bleibt darum nur das zeitaufwendige Herauszupfen der einzelnen Keimlinge per Hand.

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Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ gab im Januar 2023 unter der Überschrift „Parks statt Psychopharmaka“ zu Protokoll, dass ein lebendiges, naturnahes Umfeld für ein ausgewogeneres Mikroklima, saubere Luft, geringere Lärmbelästigung sorgt und so die Körperfunktionen, das Immunsystem und nicht zuletzt die Psyche stärkt. Eine dänische Studie von 2019 stellt fest, dass Kinder, die mit vielen Grünflächen, Gärten, Parks und Wiesen aufwachsen, im Alter seltener psychisch erkranken. Im Sonnenschein heizen sich Schottergärten bis auf 60 Grad auf und strahlen diese Wärme nachts wieder ab. Eine Abkühlung findet kaum statt.

In seinem eigenen Schrebergarten lässt Ulf Soltau es einfach wachsen.
In seinem eigenen Schrebergarten lässt Ulf Soltau es einfach wachsen. | Bild: Paul Zinken

Die Tagesschau wusste 2020 zu berichten, dass Deutschland mit jährlich 20.200
Hitzetoten über 65 Jahren (Stand 2018) nach den zwei bevölkerungsreichsten Ländern China und Indien weltweit an dritter Stelle hitzebedingter Sterblichkeit liegt.

Wer gesundheitlich eingeschränkten alten Menschen zu einem vermeintlich pflegeleichten Schottergarten rät, nimmt billigend in Kauf, dass diese in einem vergifteten Umfeld noch kränker werden, Depressionen entwickeln und im Hochsommer den Hitzetod sterben. In Anbetracht der Überalterung unserer Gesellschaft ließe sich auch zynisch resümieren: Der demografische Wandel kann nicht warten – gebt Alten einen Schottergarten!

Die Böden sind unsere Regenwälder

Neben all diesen Argumenten habe ich das bedeutendste bisher nur am Rande erwähnt: Es ist der Verlust unserer Biodiversität. Man darf sich über den Verlust von Korallenriffen oder tropischen Regenwäldern zu Recht sorgen, doch die Brennpunkte der Biodiversität unserer Breiten sind unsere Böden. Sie sind unsere Regenwälder. Ihr enormer Artenreichtum ist nur ansatzweise erforscht, ihre Ökologie weitgehend unverstanden. Und dennoch sind es unsere Böden, die unsere Existenz überhaupt erst ermöglichen. Beim Klimawandel stellt sich die Frage, wie wir in Zukunft leben – beim Artensterben, ob.

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Wer immer noch nicht überzeugt ist, dass Schottergärten die größte gartenbauliche Verirrung aller Zeiten sind, dem hilft hoffentlich ein Schlag auf den Hinterkopf mit einer unserer 16 Landesbauordnungen. In ihnen heißt es unisono, dass die nicht bebauten Grundstücksflächen „begrünt oder bepflanzt“ werden müssen. Kurz gesagt: Gärten müssen Grünflächen sein. Die zentrale Feststellung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg in Bezug auf Schottergärten vom Januar dieses Jahres lautet: „Wesentliches Merkmal einer Grünfläche ist der ‚grüne Charakter‘.“ Mir bleibt nur zu hoffen, dass nicht nur Juristinnen und Juristen einen solchen Satz normal finden können.