Was ich Ihnen jetzt vorschlagen werde, liebe Leserinnen und Leser, mag Ihnen zunächst ungewohnt erscheinen. Aber ich bitte Sie: Versuchen Sie es, lassen Sie sich darauf ein. Es wird gut werden. Atmen Sie dreimal tief ein – und doppelt so lange aus. Einmal, ein, aus. Zweimal, ein, aus. Dreimal. Und, haben Sie mitgemacht? Ach, kommen Sie! Noch mal.

Jetzt? Gut, ich habe auch mitgemacht. Denn wir haben uns mit der feministischen Politik ein Thema vorgenommen, über das derzeit mit einem Empörungspegel gesprochen und geschrieben wird, der kardiologisch gesehen mindestens an den Endspurt eines Marathonlaufs heranreicht. Häme hier, Beleidigungen da – und Streit, ganz ganz viel Streit. Dass alle Seiten sich lieber persönlich angreifen, als mal auf die Fakten einzugehen, das regt mich so auf! Argh. Gut, atmen.

Was überhaupt ist Feminismus?

Aber zurück zu den Fakten. Die Frage lautet: Brauchen wir feministische Politik? Bevor wir diese beantworten, sollten wir natürlich erst einmal definieren, was Feminismus überhaupt ist. Da – was für eine Überraschung! – streiten sich die Experten nämlich. Ich schlage die simple und breit akzeptierte Erklärung von Chimamanda Ngozi Adichie vor. Die Nigerianerin hat in den vergangenen Jahren stark zum Verständnis des Worts Feminist auf der ganzen Welt beigetragen.

In ihrem millionenfach angesehenen „TEDTalk“ auf YouTube sagt sie: Ein Feminist oder eine Feministin, das sei jemand, der an die soziale, politische und ökonomische Gleichheit der Geschlechter glaubt. Genial, oder? Daraus lässt sich viel ableiten: Erst einmal, dass hier alle Geschlechter gemeint sind. Die sollen gleichen Zugang zu den Machtpositionen einer Gesellschaft haben. In der Politik, in großen Unternehmen, in der Kultur, an Universitäten. Sie sollen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhalten. Die gleiche medizinische Versorgung bekommen. Und, natürlich, die gleiche Sicherheit.

Wie ist das bei Ihnen, bei Ihrer Arbeit oder der Arbeit Ihrer Enkel, in der Kommunalpolitik Ihrer Kommune? Wer hat das Sagen? Wer verdient das meiste Geld? Wussten Sie, dass es in ganz Südbaden keine einzige Oberbürgermeisterin gibt? Und laut deutschem Städte- und Gemeindetag sind nur neun Prozent aller Rathäuser von einer Frau geführt.

In deutschen Landtagen sitzen im Schnitt 33 Prozent weibliche Mitglieder, im Bundestag 34,8 Prozent. Vertragen Sie noch ein paar mehr Zahlen? Frauen verdienen 18 Prozent weniger als Männer und in deutschen Führungsetagen sitzen laut Statistischem Bundesamt zu 29 Prozent Frauen.

Das ist insbesondere deshalb ein bisschen peinlich, weil wir im EU-weiten Ranking damit Platz 20 von 27 einnehmen. Sind Männer eventuell einfach geeigneter für die Spitzenposten? Frauen nicht klug genug, nicht redegewandt genug, nicht durchsetzungsstark genug?

Wenn Sie an dieser Stelle zustimmend nicken, muss ich leider sagen: Trotz Einatmen, Ausatmen – das wird nichts mehr mit Ihnen und dem Feminismus. Mit uns beiden.

Es ging nie um die einzelne Frau

Wenn Sie den Kopf geschüttelt haben, können wir festhalten, dass die Macht nicht gleich verteilt ist. Aber auch, dass es besser geworden ist in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten. Überall steigt die Beteiligung von Frauen. Wir hatten mit Angela Merkel die erste Bundeskanzlerin. Der Frauenanteil im Bundestag hat sich von 6,8 im Jahr 1949 auf 34,8 Prozent erhöht. Und im Jahr 2022 gab‘s an deutschen Hochschulen erstmals mehr Studentinnen als Studenten. All diese Entwicklungen hin zu mehr Teilhabe kamen allerdings nicht von selbst.

Es ging nie um die einzelne Frau, die sich einfach durchsetzen soll, wie so gern gefordert wird. Sondern ganz knallhart um die Umstände. Nehmen wir Angela Merkel als Beispiel, oder besser eine ebenso wissenschaftlich wie politisch ambitionierte Frau. Die ist aber nicht wie unsere ehemalige Bundeskanzlerin 1954 geboren, sondern 20 Jahre zuvor.

Sie heiratet, wie zu der Zeit üblich, mit 18 oder 19. Und will dann voll durchstarten: Physikstudium, Politik. Aber dann sagt ihr Ehemann: Nein. Und sie muss sich seinem Willen beugen. Per Gesetz. Seit 1958 dürfen Frauen nämlich erst ohne die Zustimmung ihres Mannes arbeiten. Auch ihr Lohn und die Zinsen ihres Verdienstes standen unter Verwaltung des Ehemannes. Vergewaltigung in der Ehe ist übrigens erst seit 1997 strafbar.

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Für diese konkreten Veränderungen haben Menschen gestritten, gekämpft und Überzeugungsarbeit geleistet: Auf der Straße, in politischen Gremien, in persönlichen Diskussionen. Bis die Gesetze und Strukturen geändert wurden. Wahlrecht für Frauen, Streichung des Abtreibungsparagrafen, Mutterschutz – feministische Politik gibt es seit über 100 Jahren!

Regeln sind entscheidend

Chancengleichheit steht und fällt mit Regeln. Momentan ist die Forschung sich ziemlich einig, dass Selbstverpflichtungen und guter Wille nicht reichen und Quoten, Gesetze und gezielte Förderung her müssen. Dafür braucht es dringend Politikerinnen und Politiker, die verschiedene Perspektiven mitbringen, faktenbasiert arbeiten, sich von Experten beraten lassen.

Es gibt noch so viel zu tun: Feminismus im Sinne gleicher Chancen für alle Geschlechter heißt eben nicht nur, die gut ausgebildete, weiße, junge, kinderlose, dialektfreie, gut aussehende und gesunde Frau zu fördern. Während ältere Frauen, Frauen aus Arbeiterfamilien, Frauen mit Migrationsgeschichte, Frauen mit chronischen Erkrankungen, queere Menschen oder Mütter es schwerer haben, das belegt die Forschung. Genauso wie Männer, die zu diesen Gruppen gehören.

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Bei der aktuell von Annalena Baerbock präsentierten Leitlinie zur feministischen Außenpolitik geht es um die Einbeziehung von benachteiligten Gruppen, weltweit. Super Idee, wenn dem auch Taten folgen. Eines der akutesten Probleme, da lebensbedrohlich, ist die Sicherheit: Alle drei Tage wird eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. In Deutschland. Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine vergewaltigen Soldaten Frauen.

Sexuelle Belästigung ist etwas, das viele Frauen bereits am eigenen Leib erfahren haben. Risiken, denen Männer deutlich (!) weniger ausgesetzt sind. Die Politik könnte damit anfangen, für ausreichend Platz in Frauenhäusern zu sorgen und alle hineinzulassen.

Jeder sollte Feminist sein

Wer, der sich als aufgeklärten Menschen sieht, dem Fairness und Gerechtigkeit wichtig sind, kann offenen Herzens sagen: „Wir brauchen keine Politik, die solche Nachteile ausgleicht“?

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Und wissen Sie, da ist es vollkommen egal, was Sie über Gendersternchen* oder Alice Schwarzer denken, ob sie „Germany‘s next Topmodel“ lieben und Friedrich Merz sexy finden. Die ständige Aufregung um Einzelpersonen oder Äußerungen lenkt weg von den Diskussionen, die wir eigentlich führen sollten: Über Fakten, Fairness und Gerechtigkeit. Ich bin fest davon überzeugt, dazu kann fast jeder etwas beitragen. Feministische Politik und Außenpolitik darf keine Frauensache sein. Jeder kann Feminist oder Feministin sein. Ich finde sogar: Jeder sollte.

Die Gegenposition: Unsere Gastautorin Nena Brockhaus vertritt eine ganz andere Meinung. Sie können sie hier lesen.