„Der Fehler fängt schon an, wenn einer sich anschickt, Keilrahmen und Farbe zu kaufen“, beschwor Joseph Beuys 1985 das Ende der Malerei in der zeitgenössischen Kunst. „Ich weiß nur, dass Malerei nützlich und wichtig ist, wie Musik und Kunst überhaupt, dass Malerei also etwas ganz und gar Lebensnotwendiges ist“, konterte Gerhard Richter 1992. Was also nun? Welche Bedeutung und welchen Stellenwert hat das schon oft totgesagte und doch quicklebendige Medium der Malerei in der Kunst unserer Zeit und unserer Region?

Dieser Frage spürt die grenzübergreifende Ausstellung „Ohne Titel – Junge Malerei aus Süddeutschland und der Deutschschweiz“ nach, die im Kunstmuseum Singen und im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen mit einer außerordentlichen Fülle und Vielfalt an Positionen und Potenzialen von 57 Künstlern und rund 130 Werken die Aktualität und Attraktivität der klassischen Technik in den Fokus rückt.

Beim Gang durch die lichten Räume der beiden Etagen des Singener Kunstmuseums eröffnet sich dem Besucher die enorme Spannbreite und variantenreiche Tiefenwirkung zeitgenössischer Malerei. Und sofort wird offensichtlich: Die einstige Königsdisziplin der Kunst ist zurück, auch und gerade im digitalen Zeitalter.

Sie strotzt vor Selbstvertrauen und Innovation, zeigt sich provokant und mutig, lustvoll und sinnlich, ausdrucksgeladen und experimentierfreudig. Mit dem Altersniveau zwischen 20 und Mitte 40 gehören die aus dem süddeutschen und Deutschschweizer Raum zwischen Basel und St. Gallen, München und Karlsruhe stammenden oder dort arbeitenden Maler zur jüngeren Generation.

Impulse des Digitalen: „Scribbling“ von Stefanie Kägi.
Impulse des Digitalen: „Scribbling“ von Stefanie Kägi. | Bild: Andreas Gabelmann

Ihre Arbeiten – vorrangig aus den 2020er-Jahren – sprengen die Genre-Grenzen und zeigen einen unverkrampften, selbstbewussten Umgang mit dem Medium. „Kategorien interessieren die jungen Künstler nicht mehr“, erklärt Museumsleiter Christoph Bauer das beachtliche Spektrum der Ausdrucksweisen und Darstellungsformen.

So erinnern Gemälde an Textilobjekte, Tafelbilder suchen die Nähe zur Installation und Inszenierung, erscheinen skulptural, spielen mit der Ästhetik von Videoprojektionen oder den Oberflächen von Computeranimationen, tauchen ab in die Kunstgeschichte und schaffen zugleich aktuelle Bezüge von politischer und gesellschaftlicher Relevanz. Gegenständliches steht neben Abstraktem, Figur trifft auf Struktur.

Klischees werden hinterfragt

Für erste Überraschungsmomente sorgt Sophia Sadzakov (Jahrgang 1992), die mit ihrem auf eine monumentale Papierrolle gemalten Orientteppich die gängigen Klischees von Material und Farbigkeit, aber auch von Kultur, Tradition und Identität mit subversiver Ironie hinterfragt.

Ebenso humorvoll wie grotesk agiert Beni Bischof (Jahrgang 1976) mit dem Thema Porträt und Farbmaterie in seiner bizarren Masken-Serie. Gegenüber entwickelt Robert Matthes (Jahrgang 1982) in seinem großen Gemälde „Inside Out“ eine orgiastische Szenerie zwischen Street-Art und Comic-Collage, Pop-Kultur und Altmeister-Allegorie.

Überreizung der Sinne: „Inside Out“ von Robert Matthes.
Überreizung der Sinne: „Inside Out“ von Robert Matthes. | Bild: Andreas Gabelmann

Eine gleichermaßen verblüffende wie irritierende Neuinterpretation der Bildgattung Künstler-Selbstporträt gelingt Jan-Hendrik Pelz (Jahrgang 1984), indem er sich in fotorealistischer Maltechnik als träumender Akt auf Leinwand in einem alten Holz-Bettgestell in Szene setzt.

Mit den Mitteln geometrisch-konkreter Farbflächenmalerei erschafft Florina Leinß (Jahrgang 1984) eine perfekte Lackarbeit in edler Graphik-Design-Anmutung. Die reiche Tradition der Hinterglasmalerei aufgreifend entfalten sich in Hans Vinzenz Seidls (Jahrgang 1988) Bildern gestisch-organische Farb -und Linienstrukturen, die an informelle Malerei denken lassen.

Zeiten und Kulturen werden verknüpft

Eine Verknüpfung unterschiedlicher Zeiten und Kulturen prägt Christoph Knechts (Jahrgang 1983) wandfüllende Arbeit „Europa“: Im Stil portugiesischer Majolika-Kacheln verschmelzen Marinebilder, arabische Schriftzeichen, die Szene einer Demonstration und Logos von Internetportalen zu einer dekorativen wie auch bedeutungsschweren Zusammenschau.

Dass Malerei auch als installatives Wandobjekt mit bühnenhafter Wirkung funktionieren kann, beweist Dana Greiners (Jahrgang 1988) farbintensive Lackmalerei auf Plexiglas: Wie im Theater oder Varieté öffnet und schließt sich computergesteuert ein Vorhang vor dem Bild und thematisiert das subtile Spiel des Zeigens und Verbergens.

Enthüllen und Verbergen: „Clandestine Encore 3“ von Dana Greiner.
Enthüllen und Verbergen: „Clandestine Encore 3“ von Dana Greiner. | Bild: Andreas Gabelmann

Im Obergeschoss dominieren eher Großformate: Nur mit Klammern an die Wand getackert, empfängt Pia-Rosa Dobrowitz (Jahrgang 1991) riesige Leinwandarbeit „AFF JVY1“ den Betrachter mit zwei Symbolen aus dem Internet und der Kunstgeschichte.

Einflüsse des Digitalen auf die Gestaltung von Malerei reflektiert die Arbeit „Scribbling“ von Stefanie Kägi (Jahrgang 1987), in der sich analoge und computergestützte Bildtechniken durchdringen und zu einem nervös-expressiven Farbdickicht steigern.

Große Vielfalt junger Kunst

Mit den Gesetzen von Komposition und Wahrnehmung, Farbe und Räumlichkeit, im Zeitalter permanenter Bilderflut beschäftigt sich Christine Streuli (Jahrgang 1975) in ihrer explosiven All-Over-Malerei „Warpainting“.

Landschaftsmalerei zwischen Traum und Wirklichkeit kennzeichnet die großzügige Arbeit „blue streak“ von Rebekka Steiger (Jahrgang 1993), die an die Tradition chinesischer Tuschemalerei anknüpft und diese mit freier Geste sogleich in ein dynamisches Eigenleben transformiert.

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Zu den eindrucksvollsten Beiträgen zählen gewiss die monumentalen Leinwandbilder „Der brave Soldat“ und „Dimension des Krieges“ von Claudia Magdalena Merk (Jahrgang 1982), die – obgleich schon 2018 entstanden – jetzt eine erschreckende Aktualität gewinnen. Zwischen präziser Gegenständlichkeit und gezielter Abstraktion changierend, gelingt, trotz aller Düsternis des Motivs, eine scharfsinnig zupackende Neuinterpretation der Kriegsdarstellung.

Nicht zuletzt mit solchen Arbeiten vermittelt die Singener Ausstellung die Frische und Unerschrockenheit gegenwärtiger Malerei. Man darf gespannt sein auf die Schau in Schaffhausen.

Bis 16. April im Kunstmuseum Singen. Geöffnet Dienstag bis Freitag von 14 bis 18 Uhr, Samstag und Sonntag von 11 bis 17 Uhr. Weitere Informationen finden Sie hier.

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