Das Problem mit Differenzen innerhalb der Familie ist ja dieses: Ist der Streit um Banalitäten wie um das Mittagessen oder das Spielzeug erst mal da, bilden sich wie von Geisterhand immer wieder dieselben Parteien. Papa schlägt sich auf die eine Seite, Mama auf die andere, und auch unter den Geschwistern geraten sich immer wieder dieselben Kinder in die Haare.
Wie prägend sind solche Konstellationen für die weitere Familiengeschichte? Können sie im schlimmsten Fall zu einem Bruch innerhalb der Familie führen? Auch das kennt man ja: Geschwister, die nicht mehr miteinander sprechen, Kinder, die mit den Eltern gebrochen haben oder umgekehrt. Dann fragt man sich gerne: was ist da möglicherweise schiefgelaufen, damals, als es nur um Banalitäten ging?
Nabuccos Töchter
Auch in Giuseppe Verdis „Nabucco“ gibt es ein ungleiches Schwesternpaar. Es sind die Töchter von Nabucco (besser bekannt als Nebukadnezar), dem biblischen König von Babylon (Michael Volle), der gerade dabei ist, die Hebräer zu unterwerfen. Die allerdings wehren sich nicht nur – sie haben auch Gott auf ihrer Seite und stehen in der Oper für den Anbruch einer neuen Zeit. Es ist die Übergangszeit vom Polytheismus zum Monotheismus. Nabuccos Töchter Abigaille (Anna Smirnova) und Fenena (Veronica Simeoni) reagieren unterschiedlich auf diese gesellschaftspolitisch fragile Situation. Während Abigaille am alten System und der damit verbundenen Macht festhält, hat Fenena ihr Herz Ismaele (Banjamin Bernheim) geschenkt und konvertiert selbst zum Judentum. Damit stellt sie sich nicht nur gegen Abigaille, sondern – zunächst – auch gegen den eigenen Vater. Aber auch zwischen Abigaille und dem Vater kommt es zum Bruch, weil beide um Macht und Krone ringen.

Was von alledem ist bereits vorgezeichnet? Andreas Homoki, Intendant des Zürcher Opernhauses, geht dieser Frage in seiner Inszenierung von „Nabucco“ nach und beleuchet die Kindheit der Schwestern. In der Ouvertüre sieht man sie als kleine Mädchen, wie sie um die Krone des Vaters rangeln – und wie das eine sie sich triumphierend aufsetzt. Man ahnt bereits, wer das ist. Der Vater nimmt den Kindern die Krone dann wieder ab. Noch sind die Machtverhältnisse klar.
Wie sich die Vorgänge wiederholen
Wenig später stürzt Nabucco offenbar in Folge eines Schwächeanfalls zu Boden. Und mit ihm die Krone. Während das eine Mädchen ihm zur Hilfe eilt, hebt das andere die Krone auf. Diese Szene zeichnet vor, was später passieren wird – mit weitaus tragischeren Folgen. In dem Moment nämlich – wir befinden uns jetzt mitten im Operngeschehen -, als sich der wutentbrannte Nabucco vor den Hebräern selbst als Gott bezeichnet, trifft ihn der Schlag und er wird wahnsinnig. Seine Krone fällt zu Boden. Während Fenena, obwohl sie als Jüdin bereits auf der gegnerischen Seite steht, sich nach einem Schockmoment ihrem Vater zuwendet, schleicht Abigaille eine Weile um die Krone herum, greift sie dann und setzt sie sich auf. Sie begreift die Schwäche des Vaters als ihre Chance und versucht ab jetzt konsequent, ihn zu entmachten.
Nabucco als Oper über einen Familienkonflikt?
Zwei ungleiche Schwestern – die eine dominant und trotzig, die andere empathisch. Dazu ein herrschsüchtiger Vater – kurz: Verdis „Nabucco“ als Oper über einen Familienkonflikt? Das dürfte kaum jemandem zu Verdis Frühwerk als erstes einfallen. Wofür „Nabucco“ normalerweise steht: für große Chortableaus, für Stadiontauglichkeit und natürlich für den berühmten Gefangenenchor „Va pensiero“. Den Hang des Stücks zu Monumentalität und Statik kann auch Homoki trotz konsequentem Minimalismus in Bühne und Ausstattung (Wolfgang Gussmann und Susana Mendoza) vor allem im ersten Teil nicht weginszenieren.
Die grünliche Mauer auf der Drehbühne, vor oder neben der der Chor und die Figuren immer wieder neu arrangiert werden, lockert die Tableaus zwar auf, ohne den Chor in übertriebenen Aktionismus verfallen zu lassen, könnte aber genauso gut auch die Kulisse für einen „Freischütz“ abgeben und bleibt gerade im Bemühen um Abstraktheit zu beliebig.
Bloß keine Historienmalerei
Der Ansatz, den Fokus auf die Tragik der Familiengeschichte zu legen, funktioniert dennoch recht gut. Er schafft einen Gegenpol zur großformatigen Außensicht, indem er die Figuren psychologisch durchleuchtet. Und jede Art von biblischer Historienmalerei wird hier natürlich weiträumig umgangen.
Davon profitiert auch die Figur der Abigaille. Anna Smirnova gibt sie mit durchsetzungsstarkem Sopran als stolze und unnachgiebige Frau.

Homoki zeigt hinter ihrem skrupellosen Machthunger aber auch ihre verletzliche, unsichere Seite und offenbart ihre tiefe Sehnsucht nach einer intakten Familie. Ihr Stolz allerdings lässt solche Gefühle nicht zu. Die Erinnerungen an die eigene Kindheit (in Gestalt der beiden kleinen Mädchen) verscheucht sie, bei dem berührend leise angestimmten Gefangenenchor (Chor der Oper Zürich, Einstudierung: Janko Kastelic) hält sie sich die Ohren zu, und als Nabucco ihr die Hand zur Versöhnung reicht, schafft sie es nicht, über ihren Schatten zu springen. Erst angesichts des Todes – bei Homoki erschießt sie sich – kann sie sich zu einer Bitte um Vergebung durchringen.
Nabucco – ein glaubhafter Charakter
Schauspielerisches Kraftfeld der Oper ist Michael Volle als Nabucco. Man mag ihm vorwerfen, dass er die Partie stimmlich nicht in jedem Moment astrein absolviert und gegen Ende mit Heiserkeit kämpft, aber er macht Nabucco – ganz im Sinne der Inszenierung – zu einem lebendigen und in jeder Regung glaubhaften Charakter.

Mit schnörkellosen und dennoch kraftvollen Stimmen sind auch die Partien des hebräischen Hohepriesters Zaccaria (Georg Zeppenfeld), von Fenena (Veronica Simeoni) und Ismaele (Benjamin Bernheim) besetzt. Für Präzision und straffe Tempi sorgt aber vor allem Fabio Luisi mit seiner Philharmonia Zürich, die mit der Partitur offenbar bestens vertraut ist. Auch Luisi umgeht das Pathos des Monumentalen weiträumig – sehr zum Vorteil der Musik.
Trotz allem: So richtig packen will dieser Abend nicht. Liegt es vielleicht daran, dass Homoki zu sehr darauf bedacht war, seine Inszenierung gegen die Aufführungskonventionen zu bürsten, sie aber gleichzeitig ästhetisch aussehen zu lassen und TV-tauglich zu halten? Arte concert jedenfalls hat live übertragen, und Arte TV strahlt die Produktion im Herbst aus.
Weitere Aufführungen: 26. und 29. Juni; 2., 5., 9. und 12. Juli. Infos und Tickets: http://www.opernhaus.de
Drei Fragen an ...
Andreas Homoki (59) ist Intendant des Opernhauses Zürich und Regisseur von
Verdis „Nabucco“
Was war die größte Herausforderung?
Die großen Chortableaus überzeugend in Szene zu setzen.
Warum sollen wir reingehen?
Das Stück ist unglaublich direkt, tempo-
reich und kraftvoll.
Der stärkste Satz des Abends?
„Va pensiero sull‘ali dorate.“ (Zieh Gedanke, auf goldenen Flügeln.)