Nichts fürchten wir mehr als den Fremden. Ein Feind bereitet Sorgen, ein Fremder aber Angst und Schrecken. Schon die bloße Ankündigung seines Kommens kann Demonstrationen auslösen und neue Parteien entstehen lassen. Nicht obwohl, sondern gerade weil ihn noch gar niemand kennt.
Gegensätze machen die Welt lesbar
Warum fürchten wir die Fremdheit so sehr wie der Teufel das Weihwasser? Der im vergangenen Jahr gestorbene Soziologe Zygmunt Bauman hat auf diese Frage eine Antwort gegeben. Fremdheit, sagte er, zerstöre die „ordnende Macht der Gegensätze“. Solange es Freunde und Feinde gibt, können wir wenigstens zwischen Wahrem und Falschem trennen, zwischen gut und böse, schön und hässlich. Der Gegensatz macht die Welt lesbar, er „zerstreut Zweifel und ermöglicht fortzufahren“. Mit dem Auftauchen von Fremden aber gerät die Welt aus den Fugen. Fremde, sagt Bauman „decken brutal die Fragilität höchst sicherer Trennungen auf“ und „vergiften die Bequemlichkeit der Ordnung mit dem Misstrauen des Chaos“.
Abwehrreflexe aushebeln
Wir werden bei zunehmender Globalisierung und Migration eine Strategie finden müssen, diese naturgegebenen Abwehrreflexe auszuhebeln und ein souveränes Verhältnis zur Fremdheit zu entwickeln. Vielleicht hilft es dabei, wieder zu den Anfängen unserer Auseinandersetzung mit der Fremdenfeindlichkeit zu gehen.
Platon wollte DDR hoch zehn
In der Antike plädierten Philosophen wie Platon offen für eine geschlossene Gesellschaft: für einen Staat, in den niemand hinein und niemand heraus darf, eine Art DDR hoch zehn. Bei Homer droht Odysseus‘ glückliche Heimkehr nach langer Irrfahrt daran zu scheitern, dass ihn alle für einen Ausländer halten. Und auch der Medea-Mythos beruht auf Fremdheitserfahrungen.
Medea hatte Flüchtlingsschicksal
Zwar kennen wir die Königstochter aus dem fernen Kolchis vor allem als Kindsmörderin. Dem grauenhaften Mord an den beiden Söhnen vorausgegangen ist aber ein Flüchtlingsschicksal: Das Leben in einer Gesellschaft, die den Ehemann Jason als Stammesbruder freundlich aufnimmt, seine Frau aus der Ferne aber meidet und verachtet.
Ausgrenzung im Treppenhaus
Am Stuttgarter Schauspielhaus hat die Regisseurin Mateja Koleznik diesen Mythos in Szene gesetzt und sich ganz auf Medeas Erleben der Fremdheit fokussiert. Im trostlosen, grün gekachelten Treppenhaus findet sie dafür ein gefährlich überzeugendes Bühnenbild (entworfen von Raimund Orfeo Voigt). Überzeugend, weil wir das Prinzip von Ausgrenzung und Vereinnahmung im Alltag vielleicht nirgends sonst so eindrücklich nachvollziehen können: das scheinbar vertrauliche und doch über alle Stockwerke vernehmbare Nachbarschaftsgetratsche, das grußlose Vorbeihuschen, der neugierige Blick durch den Spion an der Tür. Gefährlich, weil ein solcherart in sich geschlossenes Bühnenbild dem Spiel keine Freiheit gönnt.

Sylvana Krappatsch irrt als Medea auf den Stufen wie ein gehetztes Tier umher. Mal muss sie sich oben um die Kinder kümmern, mal dröhnt von unten König Kreons (Klaus Rodewald) Wut über ihre Anwesenheit durchs Treppenhaus. Halt könnte ihr allenfalls Ehemann Jason (Benjamin Pauquet) geben. Doch der hat seine Entscheidung zwischen oben und unten, Frau und Gesellschaft, längst getroffen – zugunsten der Gesellschaft. „Ich bin nicht, der ich war“, lautet seine Ausrede: Midlife-Crisis als Tarnung für einen Akt der Feigheit und Bequemlichkeit.

Das Verbrechen, der Kindsmord, erklärt sich bei Kolezniks „Medea“-Interpretation aus der Erfahrung von Verstoßung und Einsamkeit. Schade, dass es für mehr nicht reicht: Zu statisch und vorhersehbar wirkt dieser Abend. Es ist, als sei die Regisseurin zur Gefangene ihres eigenen Bühnenbilds geworden.
Statt der antiken Tragödiendichtung von Euripides lässt sie die romantische Version des österreichischen Dramatikers Franz Grillparzer sprechen. Mag diese auch in mancher Hinsicht moderner sein, mutet vor allem ihre Sprache altbacken an. Die Darsteller vermögen es kaum, das künstliche Pathos aufzubrechen und den Figuren einen heutigen, glaubhaften Ausdruck zu verleihen.
Und warum schockiert uns nun Medeas Tat so sehr? Das Programmheft zitiert die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen. Das Band zwischen Mutter und Kind, sagt sie, sei eines unserer brisantesten kulturellen Bilder für unsere Einbindung in die Welt. Eine Mutter, die dieses Band zerstört, kappt zugleich jede Verbindung zu dieser Welt: „Der Kindsmord ist eine Chiffre dafür, was es bedeutet, radikal verlassen zu sein.“ Verlassen als Fremde.
Kommende Vorstellungen von „Medea“: am 17., 26., und 29. Dezember. Weitere Informationen: http://www.schauspielstuttgart.de