Das Ideal von der Gleichheit aller Menschen ist in Mode gekommen. Galt die Einebnung aller Unterschiede bis vor Kurzem noch allein den sozialen Lebensumständen – der Chancengerechtigkeit und dem Recht auf Mitbestimmung – hat sie sich klammheimlich auf unsere Identitäten verlagert. Möglichst gleich wünschen sich immer mehr Menschen unsere Überzeugungen, unseren Kunstgeschmack, ja sogar unser Geschlecht: Was wir als männlich und weiblich bezeichnen, behaupten manche Forscher, sei bloß eine kulturelle Konstruktion. In Wahrheit gebe es gar keine Unterschiede.
Die Idee ist nicht neu, schon der Dichter Georg Büchner formulierte im 19. Jahrhundert den Verdacht einer „entsetzlichen Gleichheit in der Menschennatur“. All die von Menschen gepflegten Herrschaftssymbole und Extravaganzen, ihr Bildungsdünkel, Modefimmel und eitler Tand: Bei näherem Hinsehen entpuppt es sich als verzweifelter Versuch, aus dem grauen Einerlei hervorzutreten, das x-beliebige Leben zu einem eigenen, besonderen zu machen. Es ist wenig Erfreuliches an dieser Vorstellung zu finden, das Wörtchen „entsetzlich“ markiert in Büchners Einschätzung den Unterschied zu den Gleichheitsverfechtern unserer Tage.
Der Mensch, wie er wirklich ist
Am Stuttgarter Schauspielhaus ist jetzt so ein wahrhaftiger, von aller Individualität befreiter Mensch zu beobachten. Er heißt Franz Woyzeck, wird gespielt von einer Frau (Sylvana Krappatsch) als jeder geschlechtlichen, sozialen und moralischen Kategorie enthobenes Wesen. Wir sehen vor uns: den Menschen, wie er wirklich ist.

Alle anderen führen den üblichen Kampf um Identität. Woyzecks Braut Marie (Paula Skorupa) zum Beispiel freut sich über ihren roten Mund, der sie trotz aller Armut auf Augenhöhe mit den „großen Madamen“ dieser Welt bringt. Der Tambourmajor dagegen (Sebastian Röhrle) will brüllend und prügelnd ein ganzer Mann sein. Derweil geriert sich der Doktor (Sven Prietz) als feinsinniger Gelehrter mit Sigmund-Freud-Bart. Sie alle sind gefangen in der Matrix unserer Eitelkeit, die sich als eine Art Fischernetz vom Schnürboden auf den Boden herabsenkt (Bühne: Davy van Gerven).
Als Figur außerhalb jeder Kategorie wird Woyzeck zu ihrem Spielball. Er lässt sich von Marie betrügen, vom Tambourmajor demütigen, vom Doktor als Versuchskaninchen missbrauchen. Und wagt er mal zu fragen, wozu das alles nötig ist, so antwortet Marie mit einer rhetorischen Frage: „Bin ich ein Mensch?“
Gut, aber ohne Moral
Menschen brauchen das, Menschen müssen sich definieren, abgrenzen und über andere erheben, um der entsetzlichen Gleichheit zu entgehen. Nur dann sind sie auch in der Lage, moralische Belehrungen zu erteilen. „Er ist ein guter Mensch“, urteilt der Hauptmann (Matthias Leja) gnädig über den identitätslosen Woyzeck: „Aber er hat keine Moral!“
Moral muss man sich leisten können. Entsprechend sind Vertreter privilegierter Schichten schon immer groß darin gewesen, ihre Regeln zu definieren. Ob sie deshalb auch gut sind, steht auf einem anderen Blatt.
Und was ist nun also der Mensch? Wie sieht er aus, wenn man ihn all seiner Eitelkeiten entkleidet? Regisseur Zino Wey liefert mit seiner Inszenierung eine spannende Fragestellung. Schade, dass die Antwort darauf allenfalls so halb gelingt. Die Szenen – Büchners Textvorlage ist Fragment geblieben – wirken mitunter beziehungslos aneinander gereiht, Woyzecks Bluttat erscheint nicht wirklich schlüssig. Sylvana Krappatschs Spiel ist kraftvoll, leidet aber unter der vorgegebenen Interpretation dieser Rolle. Eine Figur um wesentlichen Merkmale ihrer Identität zu bringen statt diese auszustellen, muss jedem Schauspieler als paradoxe Aufgabe erscheinen.
Der Mensch, heißt es bei Büchner, ist ein Abgrund: „Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“ Näher werden wir dem Rätsel seines Wesens vielleicht nicht auf die Spur kommen.
Kommende Vorstellungen am 29. Januar sowie 13. und 14. Februar. Weitere Informationen: http://www.schauspiel-stuttgart.de