Fünf Jahre nach der Katastrophe von Fukushima findet das Ereignis Eingang in den Kulturbetrieb. In Hamburg trägt es den Namen „Stilles Meer“, eine Oper von Toshio Hosokawa. In Mönchengladbach reflektiert das Stück „Käfig aus Wasser“ das Geschehen. Und in Tübingen feiert bald ein „Fukushima-Requiem“ seine Uraufführung. Ein Seebeben als Zäsur für die Kulturgeschichte: Diese These gab es schon einmal – und sie war schon damals falsch.
Es war am 1. November 1755, als ein Erdbeben Portugals Hauptstadt Lissabon verwüstete. Erst stürzten die Häuser ein, dann breitete sich ein Großbrand aus, schließlich gab ein Tsunami der Metropole den Rest. Es dauerte nicht lange, da riefen Dichter und Denker aller Herren Länder diesen Tag zum Wendepunkt der europäischen Geistesgeschichte aus. Am 1. November 1755, so hieß es, sei die These der Güte und Allmacht Gottes ins Wanken geraten: Die Auslöschung einer ganzen Stadt lasse sich unmöglich noch mit einer göttlichen Strafe für begangene Sünden erklären.
Wegen des 1. Novembers 1755 schrieb Heinrich von Kleist seine Novelle „Das Erdbeben in Chili“. Den 1. November 1755 verarbeitete Voltaire in seinem Roman „Candide oder der Optimismus“. Und ohne den 1. November 1755, behaupten manche, gäbe es nicht Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Drei Beispiele, ein Haken: Wahrscheinlich ist das alles großer Unsinn.
Das Erdbeben von Lissabon
Wie die Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer und Thorsten Unger in ihrer Studie über die Wahrnehmung und Deutung des Erdbebens von Lissabon nachweisen, war für viele Intellektuelle der angebliche Schock nur eine günstige Gelegenheit, ihre längst ausformulierten Argumente besser zu vermarkten. Am Beispiel von Lissabon konnte man plötzlich eine lang gehegte Skepsis gegenüber der kirchlichen Lehrmeinung plastisch zum Ausdruck bringen. Wer dagegen eben dieser Kirchenmeinung anhing, ließ sich davon nicht beirren: An der verbreiteten Vorstellung eines allmächtigen Gottes änderte sich praktisch nichts. Die Mär von der „Zäsur“ des 1. November 1755: Für Lauer ist sie das Produkt einer nachträglichen Stilisierung, eines tief im Menschen verankerten Bedürfnisses nach historischen Wegmarken, an denen sich Epochen trennscharf unterscheiden lassen. Zwar mag eine solche Wegmarke dabei helfen, den Wandel unserer Kultur zu verstehen. Für die Opfer solcher Katastrophen aber, kritisiert Lauer, bleibe die bittere Erkenntnis, „dass wir sie immer wieder für unsere Überzeugungen instrumentalisieren“.In Hamburg, heißt es, sei die Oper „Stilles Meer“ seltsam unspezifisch gewesen: fast, als könnte ihre Handlung auch woanders angesiedelt sein als in Fukushima. Dann aber wäre die Uraufführung kein Thema fürs Fernsehen gewesen. Und so habe man dem Stück eben kurzerhand das Etikett „Fukushima“ aufgepappt. Geschichte aufzugreifen und ästhetisch zu spiegeln, gehört zum Wesen der Kunst. Im Umgang mit der Katastrophe von Fukushima zeigt sich aber: Vor Instrumentalisierung ist auch der Kulturbetrieb nicht gefeit.