„Der eigentliche Raum eines Bildes – seine wahre Dimension – ist der Raum der Erinnerung.“ Diese programmatische Aussage über formale und gedankliche Aspekte bildschöpferischen Tuns gibt Andrea Zaumseil dem Besucher ihrer Ausstellung im Kunstmuseum Singen mit auf den Weg durch den überaus anregend gestalteten Parcours ihrer Pastellzeichnungen und Stahlplastiken. Unter dem vieldeutigen Titel „Unbetretbare Orte“ präsentiert die Schau geschweißte und geschwärzte Metallskulpturen im wechselseitigen Dialog mit samtig-schwarzen Pastellkreidearbeiten. Das Spektrum reicht hierbei von kleinformatigeren Zeichnungen über Einzelobjekte bis hin zu großen, wandfüllenden Tableaus und mehrteiligen, raumgreifenden Plastiken. Damit würdigt die Ausstellung erstmalig umfassend das seit 2000 entstandene plastische und zeichnerische Werk der Künstlerin in der Bodenseeregion und eröffnet darüber hinaus Einblicke in die Inspirationsquellen von Andrea Zaumseil.

Geboren 1957 in Überlingen und heute in Berlin lebend, gehört Andrea Zaumseil zu den bekanntesten und bedeutendsten Künstlerinnen der Gegenwart aus dem deutschen Südwesten. Weit überregionale Beachtung und Anerkennung erfuhr ihr bildhauerisches Schaffen 2004 durch die einfühlsame Freiplastik „Die zerrissene Perlenkette“ zur Erinnerung an das Flugzeugunglück vom 1. Juli 2002 bei Überlingen. Nach dem Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Konstanz wandte sich Zaumseil ab 1979 mit dem Studium der Bildhauerei an der Stuttgarter Akademie ganz der Kunst zu. Seit 1985 ist sie freischaffend als Bildhauerin und Zeichnerin tätig. Seit 2002 lehrt Zaumseil Bildhauerei an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle. 2015 wurde ihr Werk mit dem renommierten Hans-Thoma-Preis des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.

Wie urtümliche Relikte einer fernen Zivilisation muten die ungegenständlichen Stahlgebilde an, die in ihrer radikalen Reduktion der Formen auf das Elementare archaische Konnotationen wachrufen. Scheinen diese Objekte einer imaginierten Tier- und Pflanzenwelt entsprungen und erinnern bisweilen an Knospen, Samen oder Mikroorganismen, so entführen uns die großen, im Grenzbereich zur Malerei angesiedelten Kreidezeichnungen in atmosphärisch aufgeladene Bildräume von Wolken und Rauch, von Landschaften, Bergen und Tälern, von bewegten Formationen in organischen und geometrischen Strukturen. Den wuchtigen, kompakt-geschlossenen Volumina der frei im Raum liegenden und stehenden Skulpturen antworten die Zeichnungen mit einem lebhaften Wechsel zwischen tiefschwarzen Gründen und lichten Partien, die ihrerseits diffuse Räumlichkeiten evozieren. Das subtile Mit- und Gegeneinander von duftig-zarten Passagen und kraftvoll-zupackenden Partien kennzeichnet Zaumseils souveränen Umgang mit der Pastelltechnik. Stets ist jenes Formenrepertoire auf eine zeichenhafte Prägnanz hin verdichtet.

„Meine Zeichnungen handeln von vorgestellten Räumen, Behausungen, Körpern und Landschaften, von Himmel, Wasser und Erde. Sie entstammen der träumerischen Imagination, die sich speist aus der vorgefundenen, sichtbaren, gesellschaftlichen und persönlichen Wirklichkeit“, erklärt die Künstlerin ihre Impulse und Intentionen im Ausstellungskatalog. Und weiter betont sie: „In meinen Arbeiten geht es um die Erfindung von Welten, die im realen Außen keine direkte Entsprechung haben und doch so nah an diesem Außen sind, dass sie Teil davon sein könnten.“ So konfrontieren uns die Werke mit dem Vagen und Ungewissen, sind offen und brüchig angelegt, changieren bei den Zeichnungen zwischen abgründigen Tiefenräumen und sinnlich erlebbaren Oberflächen, bei den Plastiken zwischen äußerer Härte und innerer Beseeltheit.

In den Zeichnungen agiert Zaumseil nicht mit der Linie, sondern mit formatfüllenden Flächenstrukturen, die auf der Bildebene einen dynamischen, gleichsam vibrierenden Ausdruck hervorrufen. Im Falle der Skulpturen wirken die Arbeiten mit ihrer metallisch schimmernden Außenhaut wie gepanzerte Körper von Hybriden zwischen Tier, Natur und Objekt. Das vorherrschende Schwarz lässt das Gezeigte dann ins ebenso Bedrohliche wie Verlockende abkippen. Schlichte Werktitel wie „Seestück“, „Himmelsbild“ oder „Melancholia“ benennen das zeichnerische Motiv, gewähren aber zugleich wichtigen Raum für Gedankenspiele.

Eindrucksvoll macht die sehenswerte Ausstellung deutlich, wie stark Andrea Zaumseil ihre Plastiken und Zeichnungen als Einheit begreift und sich die Gattungen interaktiv ergänzen. Aneignung und Verwandlung des Sichtbaren prägen den künstlerischen Prozess. Anregungen schöpft Zaumseil aus ihrem Fundus an Fotografien, die sie in Zeitungen und Zeitschriften findet oder selbst auf Reisen anfertigt. Davon ausgehend bewegt sich die eigenständige Bild- und Formensprache am Rande der Wirklichkeit und öffnet dem Betrachter vielfältigste Zugänge und Assoziationsräume. Das Resultat sind autonome Werkschöpfungen, die im Schattenreich des Unergründlichen ein faszinierendes Eigenleben entwickeln.

Andrea Zaumseil – Unbetretbare Orte. Zeichnungen und Plastiken, Kunstmuseum Singen, Bis 3. Juli. Di bis Fr 14-18, Sa/So 11-17 Uhr. Künstlergespräch mit Andrea Zaumseil: 12. Juni, 11 Uhr. Katalog: 28 Euro. Weitere Informationen:

www.kunstmuseum-singen.de