Als Opern-Gänger sieht man das Publikum, dessen Teil man ist, in der Regel nur von hinten. Man kann alle erdenklichen Varianten der Haartracht entdecken, aber wirklich ins Gesicht schauen wir bestenfalls unseren Sitznachbarn. Das ist dieses Mal anders im Opernhaus Zürich. Das Publikum ist geteilt und sitzt sich gegenüber – auf der Bühne und im Zuschauerraum. Live-Kameras beobachten es und zeigen uns in großformatigen Videos, wie Zuschauer Hälse recken oder Smartphones zücken. Wir schauen ihnen zu und in die Augen. Sehen sie uns ebenfalls? Plötzlich ist da das Gefühl der Ausgestelltheit.
Meister der Selbstinszenierung
Und genau darum geht es in Calixto Bieitos Lesart von Claudio Monteverdis 375 Jahre alter Oper „L’Incoronazione di Poppea“ (Die Krönung der Poppea): Um eine Gesellschaft, die sich dabei zuschaut, wie sie sich ausstellt, selbst inszeniert, auf Facebook und Instagram präsentiert. Monteverdi hatte kein Smartphone, aber tatsächlich zeichnet die Oper auf den Text von Francesco Busenello ein derart zynisches Bild einer selbstsüchtigen Gesellschaft, dass es nicht schwierig ist, darin eine moderne Gesellschaftskritik zu sehen.
Im alten Rom
Die Geschichte spielt im alten Rom zur Zeit Neros. Er möchte seine Geliebte Poppea zur Gattin machen. Allerdings gibt es da ein paar Probleme. Nero ist noch mit Ottavia verheiratet, Poppea mit Ottone liiert, und der Philosoph Seneca stört mit seiner Besserwisserei auch irgendwie. Also wird gemordet und verbannt, was das Zeug hält. Aber nicht allein Nero ist der Böse. Poppea, die nicht nur heiß auf Nero, sondern auch auf den Thron ist, mischt ebenfalls kräftig mit. Die verlassene Ottavia stiftet den verlassenen Ottone zum Mord an Poppea an, der wiederum zieht seine Ex-Geliebte Drusilla dort mit hinein. Die Liebe ist in diesem Stück einmal kein Merkmal der Selbstlosigkeit, sondern der niederen Instinkte.

Monteverdis „Poppea“ wurde in Venedig uraufgeführt, wo man mit Rom über Kreuz lag. Auch wenn es in der Oper nicht um das päpstliche Rom geht – der kritische Blick auf die sittenlose römische Gesellschaft gefiel den Venezianern. Heute funktioniert sie auch als Metapher für eine hedonistische Selfie-Gesellschaft. Privatheit war gestern.
Bühne als Laufsteg
Das Smartphone bleibt aus Bieitos Inszenierung dann aber doch weitgehend verbannt. Wofür man ihm nicht undankbar ist. Es braucht keine Selfies schießenden Darsteller, um zu erkennen, worum es geht. Die Spielfläche, die aus einem kreisrunden Laufsteg besteht – auch so ein Bild für eine Gesellschaft, die sich unentwegt exponiert (Bühne: Rebecca Ringst) –, und die vielen Live-Videos und Standbilder genügen (Video-Design: Sarah Derendinger). Als netter Nebeneffekt bedienen die Videos sogar das Bedürfnis des Publikums, die Sänger aus der Nähe zu sehen.

Keine Haudrauf-Regie also. Das Experiment mit einer ins Publikum hinein verlagerten Bühne birgt andere Probleme. Zuallererst einmal akustische. Viel vom Klang geht dadurch verloren, dass die Sänger vor einem nach hinten geöffneten Bühnenraum singen und die Stimmen nicht mehr gut reflektiert werden. Weit entfernte Sänger klingen auch weit entfernt, erst in der Nähe hört man sie gut. So entsteht ein unruhiges Klangbild, und die Stimmen wirken schwachbrüstiger, als sie es vermutlich sind. Das betrifft etwa Delphine Galou (sie spielt den verlassenen Ottone), deren ungewöhnliche Stimme so sehr der eines Countertenors ähnelt, dass man zwei Mal hinhören (und hinschauen) muss, um darin eine Frau zu erkennen. Allerdings fehlt ihr auch das Volumen, um den Raum angemessen zu füllen.

Schade, dass hier einiges auf der Strecke bleibt, denn mit den besonderen Anforderungen der frühbarocken Musik kommt das Solisten-Ensemble gut zurecht. Einen besonders starken Eindruck hinterlässt Stéphanie d’Oustrac als verlassene Ottavia, deren Schmerz zu Herzen geht. Countertenor David Hansen kann als Nero besonders dort punkten, wo er seine kraftvolle Höhe einsetzen darf. Wunderbar auch Julie Fuchs als Poppea und Deanna Breiwick als Drusilla sowie Nahuel Di Pierro als Seneca mit volltönigem Bass.
Allzu glattes Klangbild
Dirigent Ottavio Dantone hat Monteverdis Partitur für die Alte-Musik-Spezialisten vom Orchestra La Scintilla eingerichtet. Da es damals nicht üblich war, Partituren voll auszuschreiben, ist viel Vorarbeit nötig. Schlussendlich bleibt aber auch hier einiges an Volltönigkeit und Spielwitz auf der Strecke. Trotz der abwechslungsreichen Instrumentierung und des versierten Spiels des Ensembles wirkt das Klangbild glatter, als es in Anbetracht des Intrigen-Spiels auf der Bühne denkbar wäre.
Das Bühnen-Experiment hat auch Konsequenzen für die Regie. Da der Steg, auf dem gespielt wird, schmal ist, verlagert Bieito einen Teil seiner Inszenierung einfach auf die Leinwände, während sich auf der eigentlichen Spielfläche zu wenig tut. Zudem müssen die Darsteller vor den Live-Kameras fürs Bild stehen bleiben, was das Spiel zusätzlich verlangsamt. Erst im zweiten Teil greift Bieto dann in die für ihn typische Zutatenkiste. Schließlich ist der Stoff aus Sex and Crime wie gemacht für ihn. Also treiben Poppea und Nero auf dem bereits sterbenden Seneca ihr Liebesspiel. Oder Nero demütigt die zu Unrecht des Mordversuchs verdächtigte Drusilla noch dann, als er sie eigentlich begnadigt. Mit dieser Produktion hat das Zürcher Opernhaus einiges gewagt – aber längst nicht alles gewonnen. Das allerdings auf hohem Niveau.
Aufführungen von „L’Incoronazione di Poppea“ am 27. und 30. Juni 2018 sowie am 3., 5., 8. und 12. Juli. Weitere Informationen und Tickets gibt es hier.