Nick Caves erste Band The Boys Next Door, 1977 in Melbourne gegründet, spielte wüsten Punkrock, seine daraus hervorgegangene zweite Band, The Birthday Party, gehörte ein paar Jahre später zu den Erfindern des Gothic Rock und schockte die Musikwelt mit dissonanten, düsteren Lärmorgien – während Cave, schon damals ganz Fürst der Finsternis, alttestamentarische Texte rezitierte.

Anfang der 80er-Jahre ließ er sich in West-Berlin nieder und stellte The Bad Seeds zusammen, die Combo, mit der er noch heute zusammenarbeitet. Mit ihr gewann er rasch eine Kultgefolgschaft, vor allem in Europa, und brachte bis heute 17 Studioalben heraus, das neueste – „Ghosteen“ (Rough Trade) – wird am 8. November 2019 als CD und LP veröffentlicht.

Es markiert einen radikalen Bruch in Caves bisheriger musikalischer Karriere – aber dazu später.

Independent-Star mit Mainstream-Erfolg

Obwohl seit jeher ein Star der sogenannten Independent-Szene, brachte es Cave – vor allem in den 90er-Jahren – auch im Mainstream-Rock-Business zu Erfolgen, am bekanntesten dürfte wohl sein globaler Hit „Where The Wild Roses Grow“ (1996) sein, eine ausgesprochen morbide Ballade über einen Serienkiller, gesungen im Duett mit der australischen Pop-Queen Kylie Minogue.

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Psychopathen aller Art haben Cave schon immer fasziniert, im Frühwerk „The Mercy Seat“ besang er 1988 einen zum Tode verurteilten Mörder, der – geläutert – sich nichts sehnlicher wünscht, als auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet zu werden, als Sühne für seine Untaten.

Noch heute hat Cave diesen Song im Live-Programm, eine durch Mark und Bein gehende Tour de Force über menschliche Abgründe – was wohl alle bestätigen können, die den Meister im Sommer 2009 bei seinem spektakulären Auftritt auf dem Southside-Festival in Neuhausen ob Eck erlebt haben.

Schuld, Sühne und Vergebung

Der Themenkomplex Schuld, Sühne, Vergebung nimmt im Werk des 62-Jährigen einen prominenten Platz ein – nicht zuletzt verwoben mit religiösen Reflexionen aller Art, am deutlichsten wohl beim Songmaterial des Albums „Dig, Lazarus, Dig!!!“ (2008).

Die apokalyptischen Visionen des eigenwilligen Australiers wurden seit jeher von den Musikern der Bad Seeds kongenial musikalisch untermalt, unter anderem von dem deutschen Sänger und Gitarristen Christian Emmerich alias Blixa Bargeld, im Hauptberuf Frontmann der Avantgarde-Combo Einstürzende Neubauten. 2003 verließ er schließlich Caves Band, weil ihm die Doppelbelastung zu viel wurde.

Nick Cave und The Bad Seeds (von links): Warren Ellis, Nick Cave und Barry Adamson.
Nick Cave und The Bad Seeds (von links): Warren Ellis, Nick Cave und Barry Adamson. | Bild: Carl Court / AFP

Der Multiinstrumentalist Warren Ellis, seit Anfang der 90er bei den Bad Seeds dabei, rückte unter diesem Umständen mehr und mehr in Vordergrund. Auch für eine ganze Reihe von Kinofilmen komponierte er zusammen mit Cave den Soundtrack und gründete mit ihm gemeinsam das Nebenprojekt Grinderman, das sich allerdings nach ein paar Jahren wieder auflöste. Wie sehr er inzwischen Caves musikalische Visionen beeinflusst, zeigt das Album „Ghosteen“ auf das Anschaulichste.

Dräuende Synthesizer-Schwaden markieren dieses aufs erste Hören ausgesprochen unzugängliche Werk über weite Strecken – ganz so, als ob Nick Cave auf seine alten Tage die deutschen Ambient-Pioniere von Tangerine Dream als Begleitband verpflichtet hätte. Verschwunden sind die harschen, aggressiven Gitarrenriffs, die hypnotisch hämmernden Drums, die von Todessehnsucht zerfressenen Lyrics.

Das Album „Ghosteen“ ist digital bereits erschienen – jetzt kommt es auch als Doppelalbum auf CD und LP heraus.
Das Album „Ghosteen“ ist digital bereits erschienen – jetzt kommt es auch als Doppelalbum auf CD und LP heraus. | Bild: Rough Trade

Von der ersten Minute an erzeugt „Ghosteen“ eine hymnische, fast schon sakrale Atmosphäre. Verantwortlich dafür ist natürlich in erster Linie Warren Ellis, der hier den Synthesizer bedient, Flöte, Geige und Klavier spielt und für die Background Vocals sorgt.

Weniger von der Instrumentierung, dafür aber umso mehr von der Melodieführung her erinnert das neue Album deutlich an die Filmmusik zum 2009 in die Kinos gekommenen post-apokalyptischen Drama „The Road“ (die Adaption des gleichnamigen Bestsellers von Cormac McCarthy), für die seinerzeit Cave und Ellis verantwortlich zeichneten.

Nick Cave mit seiner Frau Susie Bick und seinem Sohn Earl bei einer Filmgala im November 2019 in Los Angeles. Earls Zwillingsbruder ...
Nick Cave mit seiner Frau Susie Bick und seinem Sohn Earl bei einer Filmgala im November 2019 in Los Angeles. Earls Zwillingsbruder Arthur starb vor vier Jahren. | Bild: Jean-Baptiste Lacroix / AFP

Über dem elektronischen Breitwand-Soundteppich von „Ghosteen“ schwebt schließlich Caves Gesang, nicht selten wie eine Stimme direkt aus der Gruft, und fügt – oft an Bibelstellen erinnernde – Textfragmente zu einem wortgewaltigen Ganzen zusammen. Die vier restlichen Musiker der Bad Seeds mitsamt ihren Instrumenten hört man kaum, sie ertrinken förmlich in dem dicht gewebten Klangkosmos.

Verantwortlich für diesen radikalen musikalischen Stilwechsel ist zweifellos ein brutaler persönlicher Schicksalsschlag, der den seit Langem in Großbritannien lebenden australischen Musiker vor gut vier Jahren traf: Sein damals 15-jähriger Sohn Arthur stürzte von einer Klippe nahe des Seebads Brighton und starb im Krankenhaus an den dadurch erlittenen Verletzungen.

Sehnsucht nach Erlösung

Bereits auf dem Album „Skeleton Tree“ (2016) versuchte Cave, diese Tragödie zu verarbeiten, damals noch auf musikalisch eher koventionelle Art. „Ghosteen“ ist, verglichen damit, ein dramatischer Schritt nach vorn: ein hochkomplexes, aber dennoch tief ergreifendes Werk, gekennzeichnet durch die Sehnsucht nach finaler Erlösung: Wenn alles Irdische vergeht, dann findet der Mensch nur noch Trost im Immateriellen, im Spirituellen, im Religiösen. Vielleicht sollte man tatsächlich mal wieder in der Bibel lesen.