Es geschieht wenig bis nichts in Tschechows Stücken, doch dieses Nichts hat dramatische Folgen: Menschen erschießen sich, Familien zerbrechen, ganze Dörfer gehen zugrunde. Lautlos und unauffällig, als sei ein Virus am Werk. Dieses Virus einzufangen und zu untersuchen, jene mysteriöse Krankheit zu diagnostizieren, die diese Gesellschaft befallen hat: Darin besteht die Aufgabe des Theaters, zumal in Zeiten, die ohnehin von gesellschaftlichem Zerfall geprägt sind.

Der US-amerikanische Autor Neil LaBute zählt zu den bedeutendsten Dramatikern unserer Zeit. Hierzulande weniger bekannt ist, dass er auch als Regisseur in Erscheinung tritt, unter anderem in Hollywood mit Filmstars wie Morgan Freeman und Renée Zellweger. Doch Hollywood ist etwas anderes als ein deutsches Stadttheater, und auch die amerikanische Bühnenkultur unterscheidet sich von der hiesigen gewaltig.

In Konstanz hat LaBute nun „Onkel Wanja“ inszeniert. Es ist ein typisches Tschechow-Drama mit verlorenen Figuren auf einem russischen Landgut, einem frustrierten Verwalter (Onkel Wanja) und dessen unglücklich verliebter Nichte Sonja. Als der Besitzer des Anwesens, ein mäßig erfolgreicher Kunstprofessor, vorbeischaut, schlägt Frustration in Aggression um und unglückliche Verliebtheit in verzweifeltes Begehren.

Bei LaBute befindet sich das Landgut statt in Russland irgendwo in der Tschechoslowakei. Wir schreiben das Jahr 1968 im Umfeld also des Prager Frühlings. Gäbe es allerdings nicht die erklärenden Einblendungen zu Beginn, so wäre davon nichts zu merken: Was LaBute zeigt, könnte ebensogut im Hegau spielen. Auf eine Leinwand ist ein impressionistisch anmutender Birkenwald gemalt (Ausstattung: Regina Fraas). Vorne döst auf einem Liegestuhl in sommerlicher Kluft der Gutsverwalter Wanja (Sebastian Haase), rechts verrichtet die alte Kinderfrau Marina (Franziska Kleinert) ihre Hausarbeiten. Und aus dem Off zwitschern lieblich die Vögelchen.

In dieser Idylle enthüllen Tschechows Figuren nun sukzessive ihre eigene Einsamkeit. Für Kunstprofessor Alexander Serebrjakow (Ralf Beckord) ist die Ankunft auf seinem Landgut gleichbedeutend mit dem Erwachen aus einem schönen Traum: Hilflos, tapsig bemüht er sich um Orientierung in dieser provinziellen Gesellschaft, der er doch eigentlich hatte entfliehen wollen. Onkel Wanja erweist sich als Wutbürger, radikal im Lieben wie im Hassen. Gestern noch erfüllte er die Verwaltung im Dienste des Professors voller Stolz. Heute, wo sich dessen Ruhm als nur halb so glanzvoll wie gedacht entpuppt, ist Wanjas Zorn umso größer. Held oder Versager, gut oder böse, weiß oder schwarz: Dazwischen gibt es nichts für ihn. Wie Wanja leidet auch des Professors Frau Jelena Andrejewna (Natalie Hünig) daran, ihr Glück an seinen Erfolg geknüpft zu haben. Für die alte Liebe ist sie eigentlich noch zu jung, für eine neue aber zu bequem.

Sie alle richten ihre Hoffnungen auf das Streben und Handeln anderer Menschen. Nur der fesche, von den Frauen umschwärmte Arzt Michail Astrow (Thomas Fritz Jung) versucht, sein Glück in die eigene Hand zu nehmen. Doch er scheitert an der Verlockung des Wodkas.

Mit den Hoffnungen der Protagonisten entblättert sich auch der Birkenwald im Hintergrund. Statt der anfänglich frühlingshaften Naturidylle darf Kunstprofessor Serebrjakow bald eine karge Mondlandschaft expressionistischer Prägung studieren. Die Vögelchen sind verstummt, und auch die zuvor viel gehörte Beatles-Schallplatte liegt schließlich zertrümmert am Boden.

Schauspielerisch ist das sehr überzeugend, vor allem Thomas Fritz Jung vermag in seiner Figur des Arztes eine reizvolle Spannung von Lebensmut und Zerstörungsdrang aufzuzeigen. Sebastian Haases Onkel Wanja bildet in seinem kindlichen Radikalismus eine schlüssige Entsprechung zu manchem besorgten Bürger dieser Tage. Allein Laura Lippmanns Sonja blickt mitunter allzu betont melancholisch und versonnen auf den Mann ihrer Sehnsüchte.

Die Inszenierung selbst zeichnet zwar eine intensive Personenführung aus. Konzeptionell aber ist sie blass und deshalb über weite Strecken ermüdend. Ihre Verortung im revolutionären Prag bleibt ebenso beziehungslos im Raum stehen wie die musikalische Verknüpfung mit den Beatles. LaButes Bebilderung des Untergangs durch Metaphern wie entlaubte Bäume und verstummte Vögel wirkt reichlich abgestanden: Die wenigen Assoziationen zu aktuellen Fragen ergeben sich vor allem aus der literarischen Kraft des Werkes selbst.

Ganz am Schluss nimmt die bis dahin museal anmutende Nacherzählung doch noch eine überraschende, ja schockierende Wendung. Dann wird der sich als vermeintliches Opfer selbst bemitleidende Onkel Wanja plötzlich zum Triebtäter: ein Hauch jener finsteren Charakterzeichnung, LaBute seinen eigenen Dramenfiguren so oft zugrunde legt. Für den Abend kommt dieser Gedanke zu spät, für die Schauspieler jedoch zu früh. Mit den Schreien der misshandelten Sonja im Ohr soll das Publikum nach Hause gehen, Verbeugungen sind nicht gestattet. Schade eigentlich: Sie hätten sich den Beifall verdient gehabt.

Kommende Vorstellungen: morgen sowie am 15., 19., und 29. Oktober jeweils um 20 Uhr, am 12. Oktober um 15 Uhr und am 14. Oktober um 19.30 Uhr. Weitere Informationen unter: www.theaterkonstanz.de