Die Martin-Walser-Festspiele haben begonnen. Am 24. März wird der Patron, wie er am See genannt wird, 90. Seine Lesergemeinde feiert schon vorher und gleich mehrtägig.

Walser wird 90 – ein Grund mehr, ihn im Überlinger Stadtteil Nußdorf zu besuchen. Es ist nicht der erste Besuch, dennoch bleibt ein Rest an Anspannung. Als Walser das Haus in den 1960er-Jahren kaufte, hatte er sich schon einen Namen als Schriftsteller gemacht. Bücher wie „Ehen in Philippsburg“ (1957), Teile der „Anselm-Kristlein-Trilogie“ (ab 1960), waren auf dem Markt. Von den „Ehen“, die jetzt in Stuttgart als Bühnenstück inszeniert wurden, sagen Kritiker heute, es sei das beste Buch der jungen Bundesrepublik. Mit dem Roman, in dem es um die Eroberung des Wohlstands geht, beginnt Walser seine „comédie humaine“, ein auf viele Romane, Essays und Theaterstücke verteiltes Kolossalgemälde unserer Gesellschaft. Aber zum Zeitpunkt des Hauserwerbs war er nicht so solvent, um die Immobilie ganz zu bezahlen. In den ersten Jahren vermietete seine Frau Käthe – die uns an diesem Nachmittag die Türe öffnet und freundlich begrüßt – Zimmer an Sommergäste. Und nachdem Marcel Reich-Ranicki den Roman „Jenseits der Liebe“ (1976) mit den Worten „Es lohnt sich nicht (…) auch nur eine einzige Seite des Buches zu lesen“ in einer Besprechung „verriss“, fürchtete Walser gar um sein Schriftsteller-Dasein.

Das alles ist nachzulesen in seinen „Tagebüchern“, die seit 2005 suksessive erscheinen. In seinem Arbeitszimmer mit Blick auf den Überlinger See, in dem wir bei Kaffee und Kuchen sitzen, stehen noch unveröffentlichte Bände. Ich darf darin blättern. Ein eigentümliches Gefühl beschleicht mich. Als blickte ich in Walsers Innerstes. Er schreibt weiterhin Tagebuch, sagt er. Jene Aufzeichnungen, die er bei einer Bahnfahrt verloren hatte, haben sich nicht wieder gefunden.

Walser ist Leser. Davon erzählt auch die Bibliothek im Haus. Und er liest immer noch die Kritiken seiner Büchern. Allerdings sind sie keine Aufreger mehr für ihn. Dass der Ton der heutigen Besprechungen versöhnlicher klingt als früher, das bestreitet er. Über jene vernichtende Rezension des 2013 verstorbenen "Literaturpapstes" Reich-Ranicki, den viele Leser in Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) erkennen wollten, sagt er relativierend:

Als Marcel Reich-Ranicki die böse Kritik schrieb, war das in der Zeit, als im Südwestfunk die „Bestenliste“ etabliert wurde. Und da kam man immer, wenn man da vorkam, zwei Monate lang vor. Damals haben 27 Kritikerinnen und Kritiker „Jenseits der Liebe“ auf Platz eins gesetzt. Im Mai. Und im nächsten Monat, im Juni, auf Platz zwei …

Walser nennt Namen von Kritikern, die ihn meuchelten, ein andermal aber lobten. Auch im Fall von Reich-Ranicki war das so. Die „Jenseits der Liebe“ folgende Novelle „Ein fliehendes Pferd“ (1978) pries er als Jahrhundert-Werk. „Tod eines Kritikers“ brachte Walser dagegen nicht nur den Vorwurf des Antisemitismus durch Frank Schirrmacher ein, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), sondern führte auch zum Bruch mit dem Suhrkamp-Verlag, den sein Lebensfreund Siegfried Unseld leitete:

Siegfried war schon kränklich. Am Freitag hatte er mir am Telefon gesagt, der Roman sei ein Meisterstück. Damals war es Mode, dass jedes Buch von mir in der FAZ vorabgedruckt wurde. Auch „Tod eines Kritikers“ sollte da erscheinen. Jochen Hieber, Redakteur der Zeitung, hatte das Manuskript gelesen. „Herr Walser“, meinte er, „klar, bringen wir. Nur Schirrmacher hat es noch nicht gelesen, der liest es übers Wochenende. Wissen Sie, was wir machen? Ich weiß schon, dass da der Reich-Ranicki als Vorbild eine Rolle spielt. Da können wir doch Folgendes machen: Wir laden Reich-Ranicki zum Essen ein und sagen nicht, dass Sie dazu kommen, Sie sind der Überraschungsgast." Dann habe ich gesagt, wunderbar, das machen wir so. Am Montag rief Hieber wieder an und sagte, „das können Sie vergessen, morgen wird der Artikel von Schirrmacher über das Buch in der Zeitung stehen“. Und da war also der Artikel drin, ein wütender Angriff gegen mich und den Roman. Damit begann der ganze Skandal. Der Verlag hat sich – gut, der wird gewusst haben, warum -, total von dem Buch distanziert.

Ich hätte sofort sagen müssen, dann geh’ ich. Aber ich bin zwei Jahre geblieben. Es kamen noch die Bücher „Lebenslauf der Liebe“ und „Meßmers Reisen“. Als mein Lieblingslektor Thorsten Ahrend bei Suhrkamp kündigte, weil ihm das ganze Klima im Verlag nicht mehr gepasst hatte, habe ich gewusst, es ist höchte Zeit. Und bin gegangen …

Unseld, der sich oft in Überlingen aufhielt, bei Buchinger abspeckte, im See schwamm, mit Walser Schach oder Tennis spielte, ist inzwischen verstorben. Auch Schirrmacher starb 2014 im jungen Alter von 55 Jahren. Walser wechselte konsequenterweise zum Rowohlt-Verlag, in dem er zuletzt „Statt etwas oder Der Letzte Rank“ veröffentlichte. Das Buch ist ein Höhepunkt in Walsers Alterswerk. Aber auch ein „Roman als Summe und Bilanz“, wie der Verlag wirbt? Das Buch kommt ohne Verkleidung in Romanhandlung aus. Ein Streitfall. Was ist es dann?

Ich könnte sagen, es wird kein Bild geliefert, aber ein Inbild. Und wem das Bild wichtiger ist als das Inbild, der soll halt belletristische Romane lesen. Ich habe ja genug davon geschrieben. Man könnte auch sagen, es ist die volle Intonierung der Existenzmelodie.

Selbst auf den Bestenlisten war Walsers komplexes Musikstück aus Worten. Der Nußdorfer wird in den nächsten Tagen ohnehin die Feuilletons füllen. Zum Geburtstag hat Rowohlt seine „Meßmer“-Bände, eine Trilogie der Selbst- und Welterkundung, erstmals in einem Band gefasst; ebenso liegen jetzt die Romane „Ein liebender Mann“ (2008) und „Ein sterbender Mann“ (2016) in einem Buch vor. Und in diesen Tagen erscheinen Walsers Essays unter dem Titel „Ewig aktuell“, eine Reise durch sechzig Jahre Zeitgeschichte. „Reaktionen aus gegebenem Anlass“, nennt er die Sammlung. Im Übrigen hat er immer noch eine Meinung zur Weltpolitik. Vor Donald Trump fürchtet er sich nicht:

Ich kann da erfahrungsgesättigt mitreden, weil ich jahrzehntelang Amerika erlebt habe. Wir waren als Familie zehn Jahr lang jedes Jahr in einem anderen Staat. Wir haben das wirkliche Amerika erlebt. Wer das erlebt hat, der weiß, dass es von deutschen Medien und Intellektuellen, und vor allem um die geht es ja, lächerlich ist, so zu tun, als müssten sie sich wegen Trump Sorgen um Amerika machen. Das ist absoluter Irrsinn. Ich habe natürlich den US-Wahlkampf im Fernsehen verfolgt. Da ging es um Hillary Clinton oder Donald Trump. Tut mir leid, ich fand Trump besser. Bei allen seinen unmöglichen Sprüchen. Ich würde mir auch niemals gestatten, wegen Frau Le Pen Sorgen um Frankreich zu machen. Die Gallier sind ein geniales Volk. Sie haben die Revolution gemacht. Und da ist doch diese deutsche Anmaßung lächerlich, sich um andere Nationen Sorgen zu machen.

Sollen sie sich doch bitte um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, als um das, was da und dort passiert. Die Gebärdensprache von Trump schreckt mich nicht ab. Ich finde, das ist ein begabter Schauspieler. Und er hat Temperament. Dem habe ich gerne zugeschaut – im Unterschied zu der aus der politischen Klasse stammenden Clinton. Der hätte ich noch weniger zugetraut. Aber das ist meine Privatsache … 

Auch zu Europa hat er ein Meinung. Er sieht eine Entwicklung, „wie man sie in 1000 Jahren sich hätte nur wünschen können – trotz aller Krisen.“ Den Aufwind, den die AfD erlebt, sieht er im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise, aber er gibt der populistischen Partei keine Zukunft. Dass Walser, der politisch einmal ganz links stand, aber nie Mitglied der Kommunistischen Partei war, ein Merkel-Fan ist, das ist bekannt. Den Satz der Kanzlerin „Wir schaffen das“ hält er „für den wichtigsten Satz in der deutschen Sprache der letzten 20 Jahre“. In Sprachangelegenheiten ist er ein Experte. Den Satz von Friedrich Sieburgs Verriss seines Romans „Halbzeit“ (1950) zitiert er immer wieder gerne: „Walser ist ein Genie der deutschen Sprache, wenn auch nichts dabei herauskommt“.

Walsers bisherige Werk darf ein Sprachkunstwerk genannt werden. Schreiben als Lebensart? Ja, aber auch aus einem Mangel heraus. "Der Mangel an Liebe schreibt die Romane", heißt es einmal in einem Tagebuch. Es gibt andere Schriftsteller, die in dem Aller schweigen. Und Walser?

Ich wüsste nicht, was ich sonst tun sollte. Wie kann man das aufhören, diese Selbstständigkeit des Inneren, die Sätze produziert?

Als Welterklärer sieht sich Walser schon lange nicht mehr, eher als „Verklärer“. Er liebt das Schöne, das er in Sprache übersetzt. Das sind dann die Walser-Sätze, die seine Leser lieben. Einer seiner prominentesten Leser ist Heribert Tenschert, Antiquar mit Sitz in der Bibermühle in Ramsen/Schweiz. Er hat das Kunststück vollbracht und gibt den "ganzen" Walser heraus – 25 Bände plus Kommentierungsband. Kunststück deshalb, weil ein Teil der Rechte am Werk Walsers bei Suhrkamp und der andere bei Rowohlt liegt. Das ist ein kaum zu toppendes Geburtstagsgeschenk. Bei unserem Besuch blättert Walser in einem Exemplar der Ausgabe:

Das ist natürlich seine Spezialität: Und da er ja ein Aktivist des Richtigen ist, hat er zugegriffen. Was Heribert Tenschert als Buch macht, ist einfach schön. Und mehr als schön ist nichts. Ich habe noch nie eine so schöne Schrift gehabt, ein so tolles Papier …

Die Gesamtausgabe wird nächste Woche im Literaturhaus in Stuttgart vorgestellt. Das ist im Übrigen der einzige Tag, an dem sich Walser öffentlich feiern lassen wird. Ob er die eine oder andere kommende Veranstaltung besuchen wird – er macht daraus ein Geheimnis. Feiert er ungern?

Da habe ich eine vorbereitete Antwort, nämlich dass bei uns Geburtstage nie so gefeiert werden wie Namenstage.

Der nächste Namenstag für Martin, dem „Sohn des Mars“ ist am 13. April. Noch ein Grund zu feiern …

Zur Person

Martin Walser wurde am 24. März 1927 in Wasserburg geboren. Er lebt in Überlingen-Nußdorf. Walser gilt als der letzte große Schriftsteller der Generation von Günter Grass, Siegfried Lenz und Uwe Johnson. Zu seinem Geburtstag sind in Wasserburg, Überlingen, Meersburg und Friedrichshafen verschiedene Veranstaltungen geplant. Ein Höhepunkt ist am Samstag, 18. März, 19.30 Uhr. Im Überlinger Kursaal lesen Freunde und Kollegen zu seinen Ehren (www.ueberlingen.de). Am Dienstag, 21. März, wird zudem im Literaturhaus Stuttgart eine Gesamtausgabe der Werke Walsers vorgestellt.