Frau Emmert, Sie kennen das Gedicht von Eugen Gomringer, das die Wand einer Berliner Hochschule ziert. Das minimalistische Sprachkunstwerk soll entfernt werden, weil es angeblich das ewig Weibliche betont. Sehen Sie darin auch einen sexistischen Angriff?

Der Antrag, das Gedicht zu entfernen, wurde vom Asta, dem Allgemeinen Studentenausschuss der Alice Salomon Hochschule eingereicht. Nicht weil es das ewig Weibliche betont, sondern weil es „eine klassisch patriarchale Kunsttradition“ reproduziert. Nun ist es ja so: Gomringer ist ein bedeutender Vertreter der Konkreten Poesie. Wie jede Kunstform speist sie sich aus einem historischen Kontext, in dem sie verortet ist. Insofern steht dieses Gedicht für eine wichtige Strömung der Literatur des 20. Jahrhunderts. Man könnte sich natürlich fragen, ob genau dieses Gedicht zu den besten gehört, die Gomringer je geschrieben hat. Der Aspekt des Sexistischen oder Chauvinistischen ist jedoch nur einer von vielen, die sich in diesen Versen verbergen. Schade, dass nun die einseitige Betrachtung alle anderen Aspekte des Werks völlig überblendet hat. Insofern frage ich mich, welcher notwendigerweise allgemeingültige Maßstab hier angelegt wurde. Wollen wir künftig wirklich mit allen Werken, die erotische, brutale oder aus heutiger Sicht sexistische Aspekte enthalten, auf diese Weise umgehen?

Die Debatte um das Gedicht hat nichts mit der Diskussion unter dem Stichwort „MeToo“ zu tun. Aber auch Kunst ist davon betroffen. In einer Galerie in Manchester wurde ein angeblich frauenfeindliches Bild zeitweise abgehängt, inspiriert durch die Sexismus-Debatte. Was denken Sie darüber?

Die MeToo-Debatte, in der ja Frauen und Männer gleichermaßen erlittenes Unrecht beklagen, ist sehr wichtig – und ich hoffe, dass sie zu positiven Veränderungen und einer nachhaltigen gesellschaftlichen Sensibilisierung führt. Für die Bildende Kunst gilt allerdings dasselbe wie für die Poesie. Man kann sich fragen, ob die Relevanz des doch eher harmlosen Bildchens von Manchester so groß ist, dass es permanent ausgestellt werden muss. Sollte die Kuratorin hier mit einer Kunst-Aktion gezielt provoziert haben, finde ich die Aktion und auch die Wahl des konkreten Werks toll. Denn das Gemälde wurde nicht einfach ersetzt, es hinterließ eine Leerstelle mit Raum für Diskurs. Ansonsten gilt: Gute Kunst ist alles – aber selten brav. Moralinsaure Werke sind zumeist unerträglich. Wie in der Literatur und im Film fasziniert auch an der Kunst das, was über das alltägliche Erleben des Betrachters hinausweist. Was wäre eine Serie wie „Breaking Bad“ ohne einen Chemielehrer, der alle moralische Bedenken hinter sich lässt? Langweilig. Fasziniert an der Serie hat das permanente und sich steigernde Überschreiten von Grenzen. Und nicht das Leben eines moralisch integren Lehrers. Ich finde den politischen Machismus unserer Zeit sehr viel bedrohlicher.

In der westlichen Kultur- und Kunstgeschichte gab es immer wieder Zensur und Strafen, wenn’s um das Geschlechtliche ging. Selbst Werke von Michelangelo wurden übermalt, wenn sie als sittenwidrig empfunden wurden. Wir Heutigen, die die sexuelle Revolution im Hinterkopf haben, sind weiter, oder?

Ich bin mir nicht sicher, ob ein „Wir Heutigen sind doch weiter“ in diesem Kontext die richtige Beschreibung ist, werfen doch gerade die Debatten um sexualisierte Gewalt und Pädophilie einen kritischen Blick auf die verklärte sexuelle Revolution. Vielmehr sind doch der Diskurs, der hier geführt wird, und die Fragen, die formuliert werden, interessant: Ist es legitim, ein Werk zu zensieren oder eine Entfernung zu fordern? Welche Motivation und welche Interessen stehen dahinter? Ich würde hier ganz klar sagen, dass die Freiheit der Kunst aus gutem Grund zentraler Bestandteil freiheitlicher Verfassungen ist.

Das Zeppelin-Museum hat eine wunderbare Otto-Dix-Sammlung. Eines seiner Lieblingsmotive sind Frauen, junge wie alte. Er zeichnete oder malte sie in allen möglichen Posen, nicht immer zu ihrem Vorteil und am liebsten nackt. Verschieben Sie seine Akte jetzt ins Depot?

Auf gar keinen Fall. Wir planen derzeit die Entwicklung eines Erweiterungsbaus mit dem Ziel, künftig auch unsere bedeutenden Dix-Bestände dauerhaft ausstellen zu können.

Im vergangenen Jahr zeigten sie eine großartige Retrospektive. Dabei wurde auch ein illustrierter Brief von Dix an seine Geliebte in Dresden ausgestellt. Text und Bild sind, nach meiner Erinnerung, nicht unbedingt jugendfrei. Gab es deshalb Beschwerden?

Interessanterweise gab es darüber keine Beschwerden, vielleicht, weil die Zeichnung Bestandteil eines intimen Briefes war – und so der Kontext der Zeichnung akzeptiert werden konnte. Aber mich erreichten böse Briefe über die „Vanitas“, ein Hauptwerk unserer Sammlung. Das hat mich überrascht.

Sie hatten auch Führungen mit Schulklassen. Wie erklären Sie Jugendlichen Bilder, die von weniger kunstaffinen Zeitgenossen womöglich als Pornografie gelesen werden?

Während meines Studiums habe ich Führungen für Schulklassen in der Staatsgalerie Stuttgart durchgeführt. Manchmal ging es um Spätgotik. Kein Thema, das Schüler auf Anhieb begeistert. Aber alle waren spätestens dann bereit richtig hinzuschauen, was auf den Bildern so zu sehen ist, wenn sie auf dem Herrenberger Altar von Jerg Ratgeb entdeckt hatten, dass Judas beim Abendmahl mit großer Erektion dargestellt ist. Auch das kann man vermitteln.

Haben Sie in Ihrer Karriere schon einmal ein Kunstwerk aus ethischen oder moralischen Gesichtspunkten abgehängt?

Nein. Das werden auch keine Gründe für mich sein. Aber schlechte Werke hänge ich ab, oder Werke ohne Relevanz. Als Kurator oder Kuratorin muss man da sehr klar und entschieden sein.

Was ist Ihr Lieblingsbild von Dix?

Aus unserer Sammlung ist es „Die Versuchung des heiligen Antonius“. Ein furioses Bild mit einem Christus am Kreuz, der sich vom Betrachter abwendet, einem besiegten Heiligen, über den ein provozierend aufreizendes Weib triumphiert. Und dies alles vor einer Landschaft, die an den Bodensee erinnert. Großartig. Im Gesamtwerk ist es das eher zugeknöpfte „Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden“.

Zur Person

Claudia Emmert, 1965 in Stuttgart geboren, ist seit 2014 Direktorin und Geschäftsführerin das Zeppelin-Museum in Friedrichshafen. Die promovierte Kunsthistorikerin und Kuratorin leitete das zuvor das Kunstpalais in Erlangen. Emmert steht für eine diskursive, also erörternde Sicht auf die Kunst. 2016/17 kuratierte sie gemeinsam mit Ina Neddermeyer die Ausstellung „Otto Dix – Alles muss ich sehen!“. Anlass war der 125. Geburtstag des Künstlers. Das Zeppelin-Museum besitzt eine Dix-Sammlung, die mit über 400 Arbeiten zu den größten weltweit zählt.