Joachim Schwitzler

Niemand auf der Erde ist der Chef! Das meint sinngemäß jedenfalls OTGO, ein junger erfolgreicher Maler aus der Mongolei, der seit 2005 zusammen mit seiner Familie in Berlin lebt. Eigentlich heißt er zum bürgerlichen Namen Otgonbayar Ershuu. Aber alle nennen in OTGO, schon seit Kindesbeinen an. Zuerst in der Mongolei und später in Europa. Und so sagen auch die Menschen, die das Glück gehabt haben, mit ihm im Kunstverein Konstanz zu sprechen, einfach nur OTGO zu ihm. Worüber sie mit dem sehr freundlichen und lächelnden jungen Mann gesprochen haben? Na, vielleicht darüber, wie Ordnung funktionieren kann, wenn es keinen Boss gibt.

Was für ein Gewimmel! OTGOs Menschen und Schlangen in Nahaufnahme.
Was für ein Gewimmel! OTGOs Menschen und Schlangen in Nahaufnahme. | Bild: Joachim Schwitzler

Aus der Sicht von OTGO sind alle Lebewesen miteinander verbunden. Der Mensch, der in seiner angeblich dominanten, männlichen Ausführung von Mark Twain auch schon als „Krone der Schöpfung“ belächelt wurde, spielt im Ordnungsgefüge der Welt nicht die erste Geige. Denn alles ist mit allem verwoben und verbunden, ist sich OTGO sicher: die Menschen mit den Tieren und Pflanzen und umgekehrt. Wer oben steht, ist zugleich unten und unten ist oben. Es gibt im Grunde keine Hierarchie der Gattungen und Arten. Dafür aber vielfältige Beziehungen der verschiedenen Lebewesen miteinander und untereinander.

Das könnte Sie auch interessieren

OTGO sieht die Sache wohl von einer universalen Weltidee aus. Ohne jegliche politische Parteinahme. Mit seiner Malerei vom Kleinen im Großen, die Winziges auf riesigen Leinwänden groß werden lässt, indem sie kleine und kleinste menschliche und tierische Figuren in schier unendlicher Zahl und ebenso unendlich variierten Körperhaltungen ständig wiederholt und zugleich neu erschafft, folgt OTGO beharrlich seinen malerischen Wurzeln und Inspirationen.

OTGO präsentiert auf seinem Mobiltelefon weitere Bilder.
OTGO präsentiert auf seinem Mobiltelefon weitere Bilder. | Bild: Joachim Schwitzler

Diese gründen zum einen in der traditionellen mongolischen Malerei, in der die hohe Kunst der Miniaturen mit Leidenschaft und Meisterschaft gleichermaßen gepflegt und gelebt wird. Als kleiner Junge hatte OTGO diese schon selbst kennen und üben gelernt, ein Hochschulstudium später in Ulan-Bator, der Hauptstadt der Mongolei, in der er 1981 geboren wurde, verschaffte ihm dann neben der staatlichen Anerkennung auch das notwendige Rüstzeug.

Das könnte Sie auch interessieren

Zum anderen verdanken sich seine weitreichenden Kenntnisse der meisterlichen Miniaturen, wie sie in der spezifischen Art mongolischer Malerei verbreitet vorkommen, einem intensiven Selbststudium, das er sich in einer Phase als Klosternomade auferlegt hatte. Zu jener Zeit nach der Hochschule reiste er von Kloster zu Kloster, um sich die buddhistische Kunst der „Thangka-Malerei“ anzueignen: Nach ihren Grundlagen und Regeln führen nicht die Hände den feinen Pinselstrich aus – es ist allein der Geist, der malt.

Ein Ausschnitt aus „Tryptych White“ von OTGO im Kunstverein.
Ein Ausschnitt aus „Tryptych White“ von OTGO im Kunstverein. | Bild: Joachim Schwitzler

Und schließlich folgt im Anschluss auf den gemeinsamen Umzug nach Berlin ein zweites, neuerliches Kunststudium, das er 2010 mit dem Master abschließt. So fließen in OTGOs Malerei, der diese fast täglich ausübt, Jahrhunderte alte, tradierte mongolische Elemente gemeinsam mit buddhistischer Weisheit und Kenntnis der Thangka-Malerei ein, erweitert und ergänzt werden diese nun noch von Bezügen und Erfahrungen mit einer westlich geprägten, zeitgenössischen Kunst.

Das könnte Sie auch interessieren

Ein herausragendes Beispiel für den immensen Überblick des Malers, der sich solchermaßen für OTGO eröffnet und seine freie Wahl der verfügbaren künstlerischen Mittel beträchtlich erweitert, ist etwa sein Werk „Hun“. Dieses prangt im Kunstverein gleich an der Stirnseite, nachdem der Besucher den schmalen Flur hinter sich gelassen hat. Jawohl prangt, denn mit einer Höhe von 2,2 Meter und einer Breite von 6,6 Meter nimmt es eine Dimension ein, die allein schon außerordentlich ist; normalerweise sind solche Größen für Konstanzer Ausstellungsbesucher frühestens in Winterthur oder in Bregenz zu sehen, hin und wieder auch in Singen. Dagegen in Konstanz? Eher weniger.

Es kreucht und fleucht

Vor allem aber ist höchst spannend, mit Neugier und Muse unablässig zu erkunden, was sich da auf dieser großen Leinwand alles so tummelt. Es kreucht und fleucht allerorten, nicht ein Fleckchen Leinwand bleibt unbesetzt. Lebewesen aller Art, außer Pflanzen, winden, schlängeln, gehen, liegen, krätschen, stehen, hocken, hakeln, füßeln, greifen, in- und miteinander, über- und unter einander. Alle sind verwoben. Wie von selbst wird Oben zum Unten und umgekehrt, von links nach rechts wird rochiert und wieder zurück, hinauf und hinab, eingeübte Uhrzeigersinne mutieren zum nach allen Seiten ausschwingenden Pendeln. Allmählich scheinen Lage und „Seitenrichtigkeit“ keine Rolle mehr zu spielen.

Das könnte Sie auch interessieren

Ständig kann Betrachterblick die Richtung wechseln und entdeckt schon wieder eine Neuigkeit. Da ein Pandabär, der lächelnd und halb verdeckt seinen benachbarten Menschen umarmt, dort ein Löwe, der so genannte „König der Tiere“ – OTGO lächelte verschmitzt, als er auf dessen Anwesenheit in diesem Bildteil hinwies –, der wie müde, ja geradezu wie erschöpft in den Seilen zu hängen scheint, während um ihn herum das bunte Leben spielt.

Menschen und Tiere

Werke wie dieses prägen das Gesicht der Ausstellung, die übrigens im Titel den sprechenden Zusatz „Unendlich“ trägt. Unendlich weit reichen die Figuren, seien es Menschen oder Tiere, sowohl augenscheinlich, das heißt als bloße Erscheinung, als auch in ihren jeweiligen Bedeutungen für sich als einzelnes Bildelement und für die Komposition insgesamt. Unendlich viel ist in OTGOs Werken zu sehen, in der Oberfläche selbst, das ist die reine Bildebene, und in den Metaebenen, das sind die, wo die pure Erzählung Abzweigungen zu nehmen imstande ist. Hasen etwa, so wie sie zahlreich in einem anderen Werk OTGOs, in „Tryptych White“, vorkommen, sind ein Zeichen von Glück und Hoffnung, und sie sind auch ein Symbol für Fruchtbarkeit.

Was auch immer OTGO malt, er macht das offensichtlich mit malerischer Leidenschaft, Obsession, Inbrunst, Hingabe. Und mit sehr viel Disziplin. Seine rund neun Werke im Kunstverein bilden einen eindrucksvollen Querschnitt eines umfangreichen, malerischen Schaffens und zugleich Könnens ab, das einen zeitlichen Rahmen von OTGOs Anfängen bis heute reicht.

Bis 24. November 2019. Öffnungszeiten: Di – Fr 10 – 18 Uhr, Sa und So 10 – 17 Uhr. Mit öffentlichen Führungen und Rahmenprogramm. http://www.kunstverein-konstanz.de