Was so uneinheitliche Protestbewegungen wie Pegida oder auch die Gelbwesten antreibt, hat der Philosoph Gilles Deleuze bereits Anfang der Neunzigerjahre vorweggenommen. Mit dem Gesellschaftssystem des Maulwurfs und jenem der Schlange traf er eine Unterscheidung, die unsere heutige Situation bemerkenswert präzise beschreibt. Der Maulwurf, sagte er, sei das Tier der Disziplinargesellschaft gewesen: fleißig, zuverlässig, aber auch lichtscheu. Denn die kapitalistische Disziplinargesellschaft habe in geschlossenen Systemen funktioniert, in „Einschließungsmilieus“ wie Schulen, Fabriken, Kasernen.
Offenes Informationszeitalter
Die Zeit dieses Systems ist vorbei. Heute haben wir das Informationszeitalter mit seinen immateriellen, vernetzten und offenen Produktionsformen. „Der Maulwurf verträgt diese Offenheit nicht, an seine Stelle tritt die Schlange“, sagt Deleuze. Anders als der Maulwurf bewegt sie sich nicht in geschlossenen Räumen, sondern erschließt sich den Raum durch Bewegung. Der Maulwurf war ein Arbeiter, die Schlange ist ein Unternehmer. Aus einem Maulwurf kann nicht so eben eine Schlange werden. Deshalb bleibt ihm nur der Protest. Gegen die sich wandelnde Gesellschaft, gegen unsichere Arbeitsverhältnisse, hohe Steuern und Überfremdung.
Geknechtete Wesen
Wie so etwas abläuft, zeigt Gerhart Hauptmanns Stück „Die Weber“, das jetzt am Stuttgarter Schauspielhaus zu erleben ist. Die Tragödie beschreibt eine Zeit, die den Maulwurf überhaupt erst hervorgebracht hat: 1844 probten schlesische Weber gegen einen reichen Fabrikanten den Aufstand. Die Arbeiterbewegung reklamierte dieses Ereignis schon bald für sich – auch wenn die tatsächlichen Umstände etwas komplizierter waren. So galt der Protest keineswegs dem Unternehmer an sich, auch spielte noch nicht die industrielle Fertigung an mechanischen Webstühlen eine Rolle.
Gleichwohl folgt Regisseur Georg Schmiedleitner (der im Programmheft explizit auf Deleuze und sein Maulwurf-Schlange-Gleichnis Bezug nimmt) der klassisch proletarischen Deutungslinie. Die Weber sind geknechtete Wesen, der Unternehmer Dreißiger (Thomas Sarbacher) dagegen ein Bilderbuch-Bonze im Gold-Jackett.

Genüsslich Zigarre paffend blickt er von seinem Designer-Büro mit Moore- und Giacometti-Skulptur auf die schuftende Masse herab (Bühne: Volker Hintermeier). Während die da unten Jeanshosen zusammenfalten und ihrerseits zusammengefaltet werden – Arbeiter wie euch gibt’s genug!“, brüllt der Aufseher Pfeifer (Giovani Funiati) –, wird da oben gefeiert: „Protect me from what I want“ steht auf Dreißigers Spirituosenschrank geschrieben. Diese Welt besteht aus Oben und Unten, Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Zur Komplexität unserer digitalisierten Wirklichkeit will das nicht passen.
Und doch: Wenn in der ärmlichen Behausung der Weberfamilie Ansorge unversehens der junge Moritz Jäger (Peer Oscar Musinowski) aufkreuzt, dann werden Parallelen sichtbar. Als Heranwachsender nämlich machte der Moritz noch alles falsch, ein Wirrkopf, der alle Ermahnungen in den Wind schlug.

Beim Militär hat er es jetzt trotzdem zu was gebracht. „Ein Tunichtgut, wie du einer gewesen bist, kommt so zu Geld!“, staunt die alte Mutter Baumert (Christiane Roßbach). Wer kennt sie nicht, diese Typen, die zu Schulzeiten noch alles taten, um ihre Zukunft in den Sand zu setzen – und heute plötzlich als Startup-Unternehmer Millionen scheffeln?
Es ist kein Widerspruch, sondern im Gegenteil nur konsequent, wenn sich so einer zum Anführer der Protestbewegung aufschwingt. Einer, der die Revolution nicht als Notwendigkeit begreift, sondern als Spiel. Und einer, der aus seinem Erfolg auch Autorität beziehen kann. Unter seiner Anleitung formieren sich die Arbeiter zum Protestchor, skandieren wütend Parolen ins Publikum.
Schade, dass die plakative Regieintention im Stile des Agitproptheaters die Darsteller zu holzschnittartigen Figurenzeichnungen verleitet. Thomas Sarbacher verzerrt das Bild des Unternehmers zähnefletschend, hämisch grinsend, zur Groteske. Jannik Mühlenweg gibt als dauerempörter Rebell Gottlieb das exakte Gegenstück. Am Überzeugendsten gerät noch Moritz Jäger in der Interpretation von Peer Oscar Musinowski: ein Mark Zuckerberg der Frühindustrialisierung, die einzige Schlange unter den Maulwürfen.
Zu gerne hätte man diesem Abend Erhellendes zum Umgang mit den Protestbewegungen unserer Zeit entnommen. Diese Hoffnung bleibt unerfüllt.
Kommende Vorstellungen: 17. und 27. Januar, 9. Februar. Weitere Informationen:
http://www.schauspielstuttgart.de
Blick hinter die Kulissen: Chorleitung
Die Sprecherzieherin Claudia Sendlinger hat mit 23 Statisten den Weberchor einstudiert.
Anforderungen: Sprache ist auch Musik. Sendlinger hat deshalb bei der Auswahl für den Chor für die Produktion „Die Weber“ neben schauspielerischen Fähigkeiten vor allem auf die Stimme geachtet: die Tragfähigkeit der Stimme im Raum, Rhythmusgefühl, Musikalität. Kann jemand einen Text in verschiedenen schauspielerischen Haltungen sprechen.
Sprechfehler: Mit Menschen ohne Sprechausbildung trainiert sie am häufigsten s-sch-Übergänge wie in „Los, schafft alle fort!“. „Das ‚s’ von ‚los’ wird gerne unterschlagen“, sagt Sendlinger: „Schon versteht man den Satz auf der Bühne nicht mehr.“ Außerdem müsse man sich für die Bühne angewöhnen, das „t“ am Wortende zu betonen: „Das verschlucken wir in unserer Alltagssprache häufig.“
Tricks: Ein klassisches Mittel für das Sprechen im Chor ist der „Anatmer“. Dabei atmet der Chorführer einmal laut ein, bevor der Text beginnt. Allerdings kann diesen Anatmer auch das Publikum hören. Sendlinger findet es deshalb eleganter, Lichtwechsel oder akustische Signale wie das Schließen einer Tür oder Musikeinsätze zu nutzen. Bei „Die Weber“ befindet sich der Chor immer im Dialog mit anderen Figuren. „Wir arbeiten deshalb hauptsächlich mit dem so genannten ‚Kipper’“, sagt Sendlinger: Der Chor schließt einfach immer direkt an den Vorredner an. Das funktioniert, solange dieser nicht sein Stichwort vergisst… (brg)