Angesichts anhaltender Terrorakte haben Politiker, Behörden und Medien Rituale entwickelt, die den Eindruck vermitteln sollen, der jeweils neueste Fall liege moralisch völlig klar. Noch bevor sie Untersuchung und Aufklärung versprechen, aktivieren sie einen Wortschatz extremer Empörung, als bräuchten wir Nachhilfe, um aus der Schockstarre herauszufinden. In Wahrheit besagen Aufkleber wie „barbarisch“ und „feige“ nichts, was nicht jedem von uns als Erstes einfällt, wenn wir auszudrücken versuchen, was das Ereignis in uns auslöst.
Was diese „ersten Stellungnahmen“ verbindet, ist eine Syntax, nach der jeder terroristische Akt entweder auf fanatisch-radikalisierte oder individuell-psychopathische Subjekte zurückgeht. Dieses Deutungsmuster hält sich gegen die historisch begründbare Einsicht, dass alles nicht so einfach ist.
Kein Feind im üblichen Sinn
Längst ist nicht nur der Kredit von Bekennerschreiben verspielt. Undicht geworden ist auch die Grenze zwischen religiöser Überzeugung, schematischem Fanatismus, blinder Radikalisierung durch Internetquellen, oktroyierter (aufgezwungener) Schnellbleiche vor Ort und einer seelischen Störung, die hundert aggressionsauslösende Gründe haben kann.
Der Terrorist ist kein Feind im üblichen Sinn. Es ist das ewige Elend der Dienste und Behörden, dass mit ihm buchstäblich nicht zu rechnen ist. Keine noch so lückenlose Vernetzung der Daten wird dagegen jemals ankommen.
Irgendwie geht es schon weiter
Wir tun uns nicht mit jeder Form des Terrors gleich schwer. Die Ablehnung, die regionale Attentate wie jene von Separatisten in der betroffenen Gesellschaft finden, enthält immer auch einen Rest von Verständnis für ihre Botschaft. Im Gegensatz dazu erleben wir den Export-Terrorismus aus dem islamischen Raum als fünften apokalyptischen Reiter. Datiert man den Beginn dieser Heimsuchung auf das Erscheinen des Al-Kaida-Gründers Osama bin Laden, könnte man dessen historische Mission darin sehen: den Konflikt zwischen den saudischen Sunniten und den in Iran und Irak führenden Schiiten in ein Projekt umgeleitet zu haben, das auf den Untergang des Abendlands zielt.
So gesehen sind ein Sprengstoffanschlag auf eine Polizeistation in Bagdad und die Zerstörung der Twin Towers in New York zwei Paar Stiefel. Was in Bagdad einen „Sinn“ ergibt, der sich aus theologischer Erzfeindschaft herleitet, erleidet auf dem Weg in unsere Breiten einen Realitätsverlust. So sehr wir unter einem Terror ins Blaue auch leiden: Noch so viele Anschläge auf Weihnachtsmärkte und Fußgängerzonen verweisen immer auf Konflikte, die uns nur am Rand berühren. Inmitten der Hochflut von Mitleid, Trauer und Zorn erhält sich ein Rest von Gewissheit, dass es schon irgendwie weitergeht.
Zynismus der Normalität
Opfer eines Anschlags werden rasch zu hilflosen Zeugen einer kollektiven Entschlossenheit zur Normalität. Verdammt dazu, aus dem Gleis geworfen bis an ihr Ende weiterzuleben, müssen sie mitansehen, wie die Normalität – dieses noch vor wenigen Jahrzehnten mit Häme bedachte Herzstück des Konservatismus – zu einem allgemeinen hohen Gut geworden ist. Es muss für sie zynisch klingen, wenn aus ihrem traumatischen Erlebnis unisono „ein Anlass zu Vorsicht, jedoch kein Grund für Panik“ abgeleitet wird.
Wirksamer im Bemühen um Normalität als relativierende Appelle ist die Installation solcher Events und ihrer Requisiten in den Andachtsräumen von Museen. Hier bietet sich im Zeichen der „Erinnerungspolitik“ für den besorgten Bürger Gelegenheit, Abstand zu nehmen und unter dem Titel der Verarbeitung eine ästhetisch zubereitete Verdrängung zu proben.

So konnte die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback durch zwei Mitglieder der RAF in Karlsruhe 1977 von Juni 2013 bis Februar 2014 im Haus der Geschichte in Stuttgart „nacherlebt“ werden. Den beklemmenden Höhepunkt der Ausstellung „RAF-Terror im Südwesten“ bildete, vor einem blutroten Hintergrund geparkt, die Suzuki GS 750, von der aus die tödlichen Schüsse ins Wageninnere der Opfer abgefeuert wurden.
Andere stehen da nicht gern zurück. „Wir zeigen verschiedene Objekte des RAF-Terrorismus, unter anderem das Flächenschussgerät, mit dem die Bundesanwaltschaft angegriffen wurde. Die Kölner Nagelbombe der Neonazi-Zelle NSU steht für den aktuellen Rechtsradikalismus. Und wir haben jetzt auch Teile der Twin Towers aus New York bekommen …“, so Hans Walter Hütter, Leiter des Hauses der Geschichte in Bonn, in einem Interview 2017.
Auf einen Standplatz in Bonn wartet angeblich noch jener Lkw, den der Tunesier Anis Amri im Dezember 2016 dem Fahrer per Kopfschuss entwendet und in den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz gesteuert hat. Am Schmerz der Betroffenen vorbei führt bis auf Weiteres kein direkter Weg in die Normalität betreuten Erinnerns.
Geschürte Angst in Bayern
So glaubhaft der Stoizismus einer Mehrheit von Bürgern und die berufsmäßige Zuversicht der Politiker auch wirken, die Anleitung zum geistigen Widerstand ähnelt dem sprichwörtlichen Pfeifen im Wald.
„Wir können sehr wohl etwas tun“, moniert der Chefredaktor des Online-Magazins „spiked“, Brendan O’Neill: „Moralisch können wir uns der Resignation verweigern. Intellektuell können wir unsere Werte gegen die ihrigen verteidigen und allem Kulturrelativismus zum Trotz darauf beharren, dass unsere liberalen, demokratischen Ideale ihren theokratischen und hasserfüllten überlegen sind. Zivilgesellschaftlich können wir ein selbstbewusstes, prodemokratisches Leben schaffen, wo die Leute für aufklärerische Ideale einstehen und rückständige islamistische Ideale demontieren. Und physisch – jawohl das auch – können wir ins Auge fassen, unsere öffentlichen Räume, unsere Orte der Geselligkeit und der Dekadenz, vermehrt auch selbst vor jenen zu schützen, die sie mit Waffen attackieren wollen“ – so zu lesen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ am 8. Juni 2017.
Die neue Normalität
Den Gefährder, der eine solche von postkolonialer Arroganz angekränkelte To-do-Liste überhaupt zur Kenntnis nimmt und zu einem Grundsatzdisput in Talk-Shows kommt, wird man suchen müssen. Falls er nicht nur den Koran, sondern auch Kant kennt, wird es ihn amüsieren, wie arglos ein Anwalt für Aufklärung und Demokratie physische Selbstschutzmaßnahmen empfiehlt, wie sie die amerikanische Waffenlobby, fußend auf der fatalen Logik des Lynchens, bedient.
Bereits ein Jahr nach Brendan O’Neills Ansage realisierte der Bayerische Landtag unter CSU-Mehrheit die Vision einer Normalität mit paranoiden Konturen. Die liberalen Ideale unterlagen den populistischen Idealen einer Parteiräson, die durch prodemokratische Argumente nicht zu ändern war. Anscheinend nicht einmal durch Einwände der Polizei, die seit dem 16. Mai 2018 ratlos vor erweiterten Aufgaben steht. Denn seit diesem Datum wird sie in Gesetzesauftrag durch unsere Orte der Geselligkeit streifen, infrarot gerüstet für drohende Gefahren, zur Durchsetzung einer neuen Normalität. Unter dieser wird sich die bislang umsichtige Sorge verwandeln: in eine geschürte Angst, die immer und überall alles Böse am Werk sieht.
Der Autor
Norbert Loacker, 78, in Vorarlberg geborener Schriftsteller, studierte in Wien Altphilologie, Geschichte und Philosophie, bevor er nach Zürich übersiedelte. Nach einer Lehrtätigkeit als Gymnasiallehrer arbeitete er von 1977 bis 1984 als Herausgeber im Kindler-Verlag. Von 1997 bis 2004 wirkte er zunächst als Stiftungsrat, dann als Präsident der Robert-Walser-Stiftung (vormalig Carl-Seelig-Stiftung) in Zürich. Loacker lebt in Kaltenbach im Kanton Thurgau.