Es scheint fast so, als hätte nur einer mal genauer hinschauen müssen. Dabei handelt es sich bei dem Altarbild, das der Konstanzer Historiker Dominik Gügel unter die Lupe genommen hat, um eines der bedeutendsten Meisterwerke der spätgotischen Sakralkunst am Bodensee. Als solches ist es vielfach wissenschaftlich untersucht worden. Doch was Gügel jetzt entdeckt hat, macht nicht nur Kunstlaien sprachlos.
Kirchen, die scheinbar keine Kreuze tragen, Schiffe mit seltsamer Beflaggung, Männer in fremdländischen Gewändern – der Feldbacher Altar ist ein Bilderrätsel, das sein Geheimnis lange nicht freigegeben hat. Dass das Retabel, der Altaraufsatz, eines unbekannten Meisters in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden ist, darüber herrscht Einigkeit. Aber schon der Herkunftsort des Altars wirft Fragen auf. Gefunden wurde das Altarbild, das im Historischen Museum Thurgau im schweizerischen Frauenfeld steht, 1848 in einem Nebengebäude des Klosters Feldbach in Steckborn am Bodensee. Daher sein Name.

Doch ob das Kunstwerk in dem Zisterzienserinnenkloster auch ursprünglich stand, ist mehr als ungewiss. Genauso gut könnte es aus einem benachbarten Kloster im Konstanzer Umland stammen oder aus Konstanz selbst, vielleicht sogar aus dem Konstanzer Münster, dem damals weit und breit bedeutendsten sakralen Bauwerk der Region. Kirchen-Kunst auf der Flucht war im frühen 16. Jahrhundert nichts Außergewöhnliches: In den Wirren der Reformation mussten sakrale Kunstwerke vielerorts in Sicherheit gebracht werden. Der Bildersturm tobte. Das schreibt der Konstanzer Historiker Dominik Gügel in einem wissenschaftlichen Beitrag im Band „Umbruch am Bodensee – Vom Konstanzer Konzil zur Reformation“. Zu diesem Zweck hat der Historiker den Altar untersucht.
Noch rätselhafter als die Herkunft des Altarbilds ist das, was der Künstler auf dem Kunstwerk dargestellt hat. Dass er für seine Zeit eine ausgesprochen moderne Malweise entwickelt hatte, war den Kunstwissenschaftlern schon länger ins Auge gefallen. Lichtregie, gekrümmte Horizontlinien, Detailreichtum zeugen davon, dass der Meister des Feldbacher Altars die Mal-Traditionen seiner Zeit durchaus zu brechen verstand.
Bruch mit den Regeln
Ein anderer Bruch mit den ungeschriebenen Regeln des späten Mittelalters scheint jedoch viel schwerer zu wiegen – und das sei die eigentliche Entdeckung, so Gügel. „Das Hauptbild des dreiflügeligen Retabels aus Fichtenholz zeigt als höchstes aufragendes Gebäude ein Minarett mit goldenem Halbmond, einen Muezzin, orientalische Handelsschiffe auf einem Meer oder See“, erklärt Gügel, der in seiner Funktion als Museumsdirektor das Napoleonmuseum Arenenberg im Schweizer Kanton Thurgau leitet.

Bislang war die Forschung davon ausgegangen, die auf dem Feldbacher Altar abgebildete Stadt sei Jerusalem – mit Bezügen zur Konzilstadt Konstanz. Doch Gügel entwickelt eine andere Theorie. Ein Ereignis aus der Entstehungszeit des Altars erschütterte die damalige christliche Welt und hinterließ Spuren: „Der Altar ist noch unter dem Eindruck der Unterwerfung Byzanz’ beziehungsweise Konstantinopels am 29. Mai 1453 entstanden“, sagt der Wissenschaftler. Sultan Mehmed II. machte die Stadt zur Hauptstadt des neu entstehenden Osmanischen Reiches. Was der Altar darstellt, sei deshalb nicht Jerusalem im Gewand von Konstanz, sondern Constantia selbst; nicht der Bodensee, sondern das Goldene Horn, der Bosporus und das Marmara-Meer. Weil der Künstler nie in der heutigen Türkei war, trügen die Gebäude die Züge der Bodensee-Stadt.
Friedliche Szenerie
Das wirklich Erstaunliche, betont der Historiker, sei aber noch etwas anderes: Die Darstellung beschreibe keine Stadt unter der Gewaltherrschaft des Islam, wie es in diesem historischen Zusammenhang zu erwarten wäre: Nach dem Untergang Byzanz’ versuchte das Osmanische Reich in den Türken-Kriegen, seine Machtbasis auszudehnen. Stattdessen zeigt der Maler eine friedliche Szenerie, in der Christen und Muslime einmütig nebeneinander leben. „Eine klare Abgrenzung zur von den Zeitgenossen empfundenen ‚Türkengefahr’.“
Damit reihte sich der Künstler in eine philosophische Strömung jener Zeit ein, die auf einen Ausgleich mit den Andersgläubigen setzte statt auf Konfrontation. „Der Altar“, ist sich der Historiker sicher, „thematisiert den Austausch der beiden Weltreligionen Christentum und Islam“ – und entpuppt sich damit als ein nicht nur für seine Zeit außergewöhnliches Kunstwerk. Gügel ist nach seinen Untersuchungen davon überzeugt, dass der Altar noch voller Geheimnisse steckt. „Die Suche nach dem ,Feldbach-Code’ ist mit den hier ausgebreiteten Ergebnissen eröffnet, aber noch lange nicht abgeschlossen.“
Der Feldbacher Altar ist im Historischen Museum Thurgau in Frauenfeld (Schweiz) zu sehen. Informationen gibt es hier.