Maria Schorpp

Wenn am Ende das nüchterne, griesgrämige Licht die Bühne verdüstert, stellt sich die zugegeben etwas ausgeleierte Frage, wer hier nun krank ist. Blanche, die gerade ins Nirgendwo psychiatrischer Verwahranstalten abgeführt wird? Oder die anderen, die es in die Wege geleitet haben und nun – die einen mit schlechtem Gewissen, die anderen erleichtert bis gleichgültig – wieder ungestört ihr sogenanntes normales Leben führen können? Weil: Dieses Licht ist definitiv ungesund. Als Blanche noch in vollem Besitz ihrer selbstbetrügerischen Vorstellungskräfte war, war es barmherziger. Wärmer.

Es geht auch ohne Marlon Brando

„Endstation Sehnsucht“ ist im Assoziationsrepertoire landauf und landab mit Marlon Brando verwoben. Der Schauspieler ist in der Verfilmung des Dramas von Tennessee Williams so präsent, dass er alles um sich herum in die zweite Reihe spielt. Die Inszenierung des Stücks von Jonas Knecht, die in St. Gallen zu sehen ist, verhilft der deutlich vielgestaltigeren Figur der Blanche wieder ins Rampenlicht. Und das durchaus wörtlich gemeint. Zumal Blanche die Aufmerksamkeit braucht wie die Motte das Licht. Anja Tobler gibt im Theater St. Gallen die Blanche DuBois, und das ganz großartig. Irgendwo zwischen Alkoholikerin und unheiliger Sünderin.

Die Mietwohnung im heißen New Orleans hat Bühnengestalter Michael Köpke in eine Art Wohncontainer verlegt, den eine Drehbühne mal von der offenen Seite, mal nur durch die gegenüberliegenden Containerfenster präsentiert. Was sich drinnen abspielt, wird weite Strecken durch zwei Videofilmer live aufgenommen und auf eine breitformatige Leinwand über dem Container projiziert. Das ist gewiss eine Hommage an die Verfilmung des Bühnenstücks durch Elia Kazan mit besagtem Marlon Brando, es ist Voyeurismus, aber auch der Figur Blanche geschuldet. So durchdringend, wie sie Anja Tobler spielt, braucht es solche Nahaufnahmen.

Schwesternpaar mit Kontur

Das Multiperspektivische erzeugt sowohl ästhetischen als auch inhaltlichen Mehrwert und verliert dabei nie sein Ziel aus den Augen: in der Enge dieses Mikrokosmos die Menschen zu erkennen. Blanche bricht eines Tages ein in die durchaus passable Ehe ihrer Schwester Stella und Stanley Kowalski, der bei Frederik Rauscher mit Bedacht ein ziemlich eindimensionales Geschöpf ist. Das wütend zuschlägt, wenn es sein Territorium bedroht sieht. Wie der Schauspieler diesen körperdominierten Supergau-Macho über die Bühne schiebt, ist dann aber doch sehr minimalistisch.

Stella (Anna Blumer) mit ihrem Macho-Mann Stanley (Frederik Rauscher)
Stella (Anna Blumer) mit ihrem Macho-Mann Stanley (Frederik Rauscher) | Bild: Iko Freese

Belle Rêve, schöner Traum, hieß das Herrschaftshaus mit der Baumwollplantage, von dem Blanche und Stella abstammen. Warum Stella vor dem wirtschaftlichen Untergang ausgerechnet in dieses enge Leben geflüchtet ist, wird bei Anna Blumer handgreiflich. Gerade in den Szenen mit Anja Tobler, denen man durch die Videoaufnahmen sehr nahekommt, erhält das Schwesternpaar Kontur. Stella muss sich irgendwann mal entschlossen haben, alles nicht so ernst zu nehmen, selbst dass sie von ihrem Mann geschlagen wird. Und vielleicht ging das nicht mehr in der Nähe einer Schwester mit diesem Hang zur ständigen Überhöhung des Lebens ins Poetische. Und mit der Vergangenheit.

Sexualität ist systemsprengend

An den beiden Figuren wird auf fast beiläufige Weise die quasi systemsprengende Kraft von Sexualität ins Bild gesetzt. Während Stellas sinnliches Eheleben die Standesgrenzen zumindest zeitweise überwindet, bekommt sie bei Blanche existenzielle Wucht. Wie Anja Toblers Blanche den jungen Zeitungsboten, gespielt von Tobias Graupner, zu verführen versucht, ist unheimlich und bewegend zugleich.

Blanche (Anja Tobler) versucht den jungen Zeitungsboten (Tobias Graupner) zu verführen.
Blanche (Anja Tobler) versucht den jungen Zeitungsboten (Tobias Graupner) zu verführen. | Bild: Ilko Freese

Als Lehrerin hat sie einen Siebzehnjährigen Schüler zu ihrem Geliebten gemacht, was sie ihren Job gekostet hat, und auch sonst hat sie allen Regeln zuwider gelebt, wie eine Frau ihre Sexualität zu handhaben hat. Sexueller Missbrauch, Machtmissbrauch, der bei ihr gnadenlos geahndet wird. Ihre Vergewaltigung durch Stanley erweist sich hingegen letztlich als systemerhaltend.

Die Inszenierung von Jonas Knecht beruht auf einer Textfassung, der ein paar geschickte Kürzungen reichen, um ein bisschen Staub abzuschütteln und so bruchlos ins Heute zu passen. Wie diese Blanche in ihrem Bild der Frau als attraktives, gefälliges Geschöpf feststeckt, gleichzeitig aber Potenzial hat, die Welt, auf den Kopf zu stellen, hat in St. Gallen auch seine komischen Seiten. Andi Peters Livemusik setzt Akzente, die fast symbiotisch mit dem Bühnengeschehen verschmelzen. Langer Applaus für bewegendes Theater.

Weitere Vorstellung am 14. Juni. Wiederaufnahme am 19. November 2019. Karten unter Tel. 0041 71 242 06 06. Infos: http://www.theatersg.ch

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