Es ist einfach, Beth Ditto auf ihre Figur zu reduzieren. Die 37-Jährige ist 1,57 Meter groß und wog zu Beginn ihrer Karriere vor neun Jahren etwa 110 Kilogramm. Seitdem soll sie etwas abgenommen haben, den Modelmaßen vieler ihrer Kolleginnen entspricht sie aber nicht. Doch ist das wichtig für eine Weltkarriere? Nein, beweist Beth Ditto einmal mehr mit ihrem Auftritt beim Hohentwielfestival in Singen. Dort zeigt die Sängerin, was sie ausmacht: eine beeindruckende Stimme und eine Scheiß-egal-Haltung angesichts der Normen und Vorstellungen, die sie ins Korsett der kleinen Dicken pressen wollen. Nicht umsonst zierte sie 2007 nackt ein Magazin-Cover, auf dem wenig mehr zu lesen war als „Kiss my ass“.

Ist sie das schon? Erwartungsfrohes Publikum in Singen.
Ist sie das schon? Erwartungsfrohes Publikum in Singen. | Bild: Tesche, Sabine

Klingt nach einer Frau, die mit dem Kopf durch die Wand will. Tatsächlich zeigt sich Beth Ditto mehr als eine gute Freundin, die ihr eigenes Ding macht und Freunde an die Hand nimmt, um ihnen einen Weg abseits der Norm zu zeigen. Eine gute Freundin, die ungeahnte Türen öffnet. Doch bis es so weit ist, muss sich das Publikum gedulden. Die Umbauarbeiten nach dem Auftritt der Vorband Mira Wunder ziehen sich in die Länge, bei jeder kleinen Regung recken sich Besucher in die Höhe – ist sie das schon? Nein. Wenig später ist sie es und beginnt ohne große Worte in „Oh my god“ davon zu singen, dass sie sich nicht ganz von jemandem freimachen kann. Dass ihr aber egal ist, was andere von ihr denken.

Schnell wird der Zuschauer zu einem guten Freund. Sie ist etwas spät dran? Das liegt an dieser fiesen engen figurformenden Unterwäsche, die sich bei Hitze so blöd hochrollt, erzählt sie freimütig. Sie kann sich in ihrem schwarz-goldenen Glitzerfummel nicht richtig bewegen? Dann nichts wie raus da. Nach drei, vielleicht vier Liedern ruft die Sängerin ins Mikrofon, dass sie ihr rotes Kleid und Fake-Haare braucht – und zwar „asap“, also schnellstmöglich. Was habe sie sich dabei nur gedacht, fragt sie in die Runde, bevor sie in eben jener figurformenden Unterwäsche auf der Bühne steht und in ein knallrotes Kleid schlüpft.

Mit diesem Kleid steht Beth Ditto auf Kriegsfuß – wenig später zieht sie sich um.
Mit diesem Kleid steht Beth Ditto auf Kriegsfuß – wenig später zieht sie sich um. | Bild: Tesche, Sabine

„Es ist ... als würde man ein Kunstwerk präsentieren“, sagte Beth Ditto 2010 in einem Interview darüber, wie es ist, in der Öffentlichkeit einen unkonventionellen Körper zu entblößen. Es ist auch ein wenig Pragmatismus an diesem heißen Sommerabend auf der Festungsruine. Darauf hat sich die Sängerin vorbereitet und einige Deutschvokabeln gelernt: „Du bist meine Schwester, ich schwitze.“ Es erklingen Zeilen wie „Nobody’s perfect“ („Niemand ist perfekt“) – als hätte Beth Ditto diesen Song für diesen Moment geschrieben. Oder diesen Moment geschaffen, um die Botschaft des Songs dick und rot zu unterstreichen. Eine Pause braucht die Amerikanerin dabei nicht – auch während des Umziehens klingt ihre Stimme noch besser als auf der ersten eigenen Platte „Fake Sugar“.

Vor zwei Jahren hat Beth Ditto sich frei gemacht von ihren beiden Bandkolleginnen. Den berühmt gewordenen Bandnamen Gossip, was aus dem Englischen mit Klatsch zu übersetzen ist, hat sie fast 20 Jahre nach den Anfängen im US-amerikanischen Olympia (Staat Washington) abgelegt. Das Ergebnis unter eigenem Namen klingt ein wenig poppiger als sonst. Laut ist Beth Ditto immer noch, zeigt aber auch melodiösen Country-Pop – wie beim Titel „In and out“, der auch aus dem Radio ihrer Heimat in Arkansas dudeln wird. Die Songs treiben nach vorne, geben Kraft, machen Mut. Dabei schafft sie es, auch in wenigen Worten wie einem wiederholten „Oh“ die verschiedensten Facetten ihrer Stimme unterzubringen. Hoch und intensiv, ruhig und eindringlich. Beth Ditto weiß, was sie tut.

Stimmgewaltig macht sich der kleine große Star live seine Bühne zu eigen – einige Minuten später als gedacht, einige Minuten kürzer als gehofft. Bereits nach 55 Minuten spaziert sie von der Bühne, um wenig später in einem wieder anderen Kleid zurückzukehren. „My name is Beth, nice to meet you“, sagt sie, als sie ihre Bandkollegen vorgestellt hat – als ob irgendjemand nicht wüsste, wer da vor ihm steht. Doch nach ihrem aktuellen Hit „Fire“ und ihrem bisher größten Hit aus Gossip-Zeiten „Heavy Cross“ ist Schluss. Das rockige Goldkehlchen verstummt und verlässt die Bühne. Da geht nicht nur eine kleine großartige Amerikanerin, sondern eine Freundin. „Ihr seid jetzt alle meine Freunde – ob ihr wollt oder nicht“, rief sie einige Minuten zuvor in die Menge. Und in Singen wollte das Publikum ihr Freund sein.

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