Es ist einer der berühmtesten „ersten Sätze“ der Romanliteratur: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“. Der vielzitierte Satz stammt aus Franz Kafkas „Der Prozess“. Der Roman ist 1914 entstanden und wurde ein Jahr nach Kafkas Tod 1924 von Max Brod in einer ersten Version herausgegeben. Er ist ein Meisterwerk und zugleich ein Monster. „Finsternis, wohin man blickt“, lautet der Befund von Kafka-Biograph Rainer Stach.
Es gehört eine Portion Mut dazu, sich diesem klaustrophobischen Monstrum auszusetzen; es gehört Naivität genauso wie Verstand dazu und sehr viel Theatererfahrung, aus dem Roman, der tausendmal von allen Seiten beleuchtet wurde, ein Bühnenstück zu generieren. Jetzt hat es, nach vielen anderen Bearbeitungen die österreichische Dramatikerin Anita Augustin für das Theater St. Gallen versucht – als die bisher eindrucksvollste Adaption gilt die Münchner Inszenierung von Andreas Kriegenburg aus dem Jahre 2008.
Uraufführung oder Zweitverwertung?
Sie nennt ihre Adaption Uraufführung, worüber sich streiten lässt. Es ist doch wohl mehr eine Scheinnovität. Aber das Problem solcher Bearbeitungen liegt woanders. Meistens sind es reduzierte Fleißarbeitsgeschöpfe, die auf Brettern herumirren, für die sie nicht geschaffen worden sind. Kleist etwa wusste genau, warum er den „Kohlhaas“ nicht für die Bühne und den „Homburg“ nicht fürs Buch geschaffen hat. Indem Romane dramatisiert werden, gerät zudem die Bühne in die Position einer Zweitverwerterin. Das hat sie nicht verdient.
Auch bei Augustin wird Josef K. an seinem 30. Geburtstag verhaftet. Sie nennt ihn Josef Ka. und gibt ihn als prämierten Banker aus. Auch in ihrer Bearbeitung hat sich der Protagonist offensichtlich keines Vergehens schuldig gemacht und irrt in der Folge ziemlich verwirrt ein ganzes Jahr auf der Suche nach seiner Schuld durch eine zunehmend als absurd empfundene Welt. Am Ende wird Ka. von einer unerreichbaren (göttlichen?) Gerichtsinstanz zum Tode verurteilt. Er fügt sich dem mysteriösen Urteilsspruch – ohne jemals zu erfahren, was man ihm vorwirft. Nicht anders ergeht es dem Zuschauer. Auch hier hält sich Augustin am Plot des Romans, ansonsten stutzt sie nolens volens den Urtext, enthält sich tagespolitisch relevanter Aussagen, zitiert aber ab und an aus dem Schweizer Strafgesetzbuch. Eine „Verbeugung“ ans Lokale. Muss nicht sein.
Bilder von ausgeklügelter Raffinesse
Es ist erstaunlich und lobenswert und in einer Kritik kaum festzuhalten, welche Phantasiearbeit Jonas Knecht, der Schauspieldirektor des St. Galler Theaters und Regisseur des Abends, entwickelt, um die Odyssee des Unglücksclowns Ka. darzustellen: Eine Bilderflut von ausgeklügelter Raffinesse, Komplexität sowie betörender Skurrilität und Poesie geht da zwei Stunden lang über die Bühne, die sich jedoch bisweilen von der eigentlichen Handlung zu absentieren droht. Postdramatischer Schnickschnack ist auch dabei, was aber zu verschmerzen ist.

Nahezu zwei Dutzend Akteure besorgen diesen tolldreisten Bilderspuk. Im Zentrum: Fabian Müller. Er gibt den Josef Ka. Vielfältig, selbstzufrieden, begriffsstutzig, lächerlich, aufrührerisch, ungläubig, laut und leise, ratlos, ja resigniert usw. Müller macht einen guten Job, wie auch der große Rest der Truppe: immer bemüht. Regisseur Knecht, der auch Revue-Elemente in dieses groteske Stationen-Drama einbaut, luftige Kostüme, Musik und Songs, auch Tanz, hat ein Faible für Puppen und lässt sie auftreten. Die Puppen – importiert aus der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin – sollen helfen, die fragmentierte Welt, die im Stück nicht immer leicht zu verstehen ist, darzustellen. Das gelingt. Die Puppen und Masken mit ihren leeren Augen und toten Mündern stehen für das sogenannte Kafkaeske. Sie setzen (zusätzlich) die Imagination in Gang.

„Der Prozess“ erzählt eine Geschichte ohne Erlösungspotenzial. Daran schließt Knechts Inszenierung an. Daher bleibt der Zuschauer und Kritiker K. angesichts der Bitterkeit der Weltsicht Kafkas etwas ratlos. Da hilft auch nicht das Wissen um das berühmte Wort, das der Prager Versicherungsangestellte an seine Verlobte Felice Bauer richtete, die im Urtext und auf der Bühne als Racheengel Fräulein Bürstner (Anja Tobler) auftaucht: „Mein Roman bin ich, meine Geschichten sind ich“. „Der Prozess“ – eine Selbstbestrafungsfantasie?
Die weiteren Vorstellungen: 15., 26. und 31. Januar; 25. Februar; 20. März; 3. April; 3. und 14. Mai. Tickets: Tel. 0041-71 242 06 06. Weitere Infos unter http://www.theatersg.ch