Sie reist, um zu verstehen, sagt sie. Und sie ist sehr daran interessiert, dass es dabei zu einem Austausch mit den anderen Kulturen kommt. Hautnah. Ulrike Ottinger, von ihr ist die Rede, ist in ihrem Leben viel gereist. Die Berliner Autorenfilmerin mit Wurzeln in Konstanz ist unterwegs aus Leidenschaft, aber vor allem aus Gründen der Profession. Ottinger hat in Asien gedreht, in Korea, China, Japan und in der Mongolei. Die Filmliste der 73-Jährigen ist dementsprechend lang.
Ottingers letzte große Reise führte sie und ihr kleines Filmteam in die kaum besiedelten Landstriche um die Beringstraße. Dreieinhalb Monate erforschte sie eine Weltgegend, von der viele Menschen nicht einmal wissen, dass es sie überhaupt gibt. „Dieser Landstrich hat eine Geschichte, von der so gut wie niemand eine Ahnung hat“, sagt Ottinger. Sie hat die Gebiete Kamtschatka, die Aleutischen Inseln, die Beringstraße, die Tschuktschen-Halbinsel und die Küste Alaskas nicht ohne Hintersinn ausgewählt. Ottinger reiste auf den Spuren von Adelbert von Chamisso (1781-1838), Autor von „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ (1814). Der Literat begleitete von 1815 bis 1818 als Naturforscher die russische Forschungsexpedition auf dem Segler „Rurik“.
Angeregt durch Chamissos Beschreibungen und die anderer Weltreisender wie Captain James Cook (1728-1779), Vitus Bering (1681-1741), Georg Wilhelm Steller (1709-1746), Alexander von Humboldt (1769-1859) und anderen mehr entstand der Plan, ihren Reiserouten zu folgen und das dabei Erlebte auf Film zu bannen. Am Ende dieses Abenteuers kehrte sie mit 130 Stunden Material zurück. Das heißt vor allem: mit eindrücklichen Bildern.
Ottinger hat ganz unterschiedliche, wunderbare Landschaftsformationen gesehen. Sie hat aber nicht Natur pur erlebt, sondern auch Zerstörungen und Verwerfungen, üble Folgen der Zivilisation – über die zerstörerischen Folgen des Kolonialismus auf die Kultur der indigenen Völker hatte übrigens schon Chamisso Kritisches notiert. Ottinger hat Meeresjäger bei der Arbeit beobachtet, die mit ihren Booten Robben, Lachse und Wale fangen. Sie begab sich auf die Spuren von Rentiernomaden, die mit ihren Herden große Strecken zurücklegen, aber das Reiten verlernt haben und nicht mehr in der Lage sind, autark zu überleben. Es sind demnach nicht nur romantische Geschichten, die die Filme Ottingers erzählen. Auch Alkoholismus ist in der dortigen Bevölkerung stark verbreitet, beobachtete Ottinger.
„Chamissos Schatten“ nennt sie den Film von der Kamtschatka und den Aleuten. Es ist eine Anspielung auf die „Schlemihl“-Geschichte Chamissos, in der erzählt wird, wie es einem ergeht, der dem Teufel seinen Schatten verkauft. Der Film hat eine Spieldauer von zwölf Stunden und kommt im März ins Kino. Vorher wird er jedoch auf der Biennale in Berlin zu sehen sein. Monatelang saß Ottinger am Schneidetisch. Sie hat (gefühlt) so hart gearbeitet wie nie zuvor in ihrem Leben, sagt sie. Neben der Kinoproduktion hat sie vier weitere Filme zu den Themen Landschaft, Menschen, Tiere und Pflanzen geschnitten, 960 Minuten Stoff, der in dem Ausstellungsprojekt „Weltreise“ in der Staatsbibliothek Berlin auf vier Leinwänden in einer in Blau gehaltenen Jurte, dem traditionellen Zelt der Nomaden, gezeigt wird.
Doch damit nicht genug. Gemeinsam mit der Kuratorin Jutta Weber hat Ottinger eine Art Wunderkammer zu den großen Weltreisenden des 18. und 19. Jahrhundert in die Ausstellung integriert. Neben Chamisso und Humboldt ist das der Naturforscher Johann Reinhold Forster (1729-1798), der 1772 mit Captain Cook um die Welt segelte. Und ja: Forster wiederum war ein Freund und Mentor Humboldts… Insgesamt werden mehr als 70 Autografen, Zeichnungen, Tabellen, Tagebücher im Zelt präsentiert, darunter auch die jüngst von der Staatsbibliothek erworbenen amerikanischen Reisetagebücher Humboldts. Aber auch verschiedene historische Objekte – wie die aztekische „Maisgöttin“, eine Steinskulptur, die Humboldt aus Mexiko mitbrachte – haben in den Vitrinen einen Platz gefunden.
Wunderbare Dinge also, dazu gehört auch das „Logbuch“ von Ottinger, die normalerweise hinter Schloss und Riegel verborgen bleiben.
Das Zusammentreffen von zeitgenössischen Filmaufnahmen – Ottinger verzichtet auf eine Kommentierung, zu hören sind Meeresrauschen und Vogelgeschrei – und historischen Exponaten schafft ein besonderes Spannungsfeld, auf das sich die Besucher kontemplativ einlassen können.
„Weltreise. Forster – Humboldt – Chamisso – Ottinger“. Staatsbibliothek Berlin. Bis 27. Februar. Mo, Di, Mi, Fr, Sa, 11-19 Uhr, Do 13-21 Uhr. Katalog 39,90 Euro. Weitere Informationen unter
www.staatsbibliothek-berlin.de