Die humanitäre Aufnahme von Menschen aus der Ukraine, die vor den Bomben und Raketen der russischen Armee auch nach Deutschland fliehen, wie auch die Flucht russischer Bürger vor dem Repressionsapparat Wladimir Putins schärft den Blick für die Kontinuität politischer Verfolgung in der Geschichte.
Die Entrechtung und Ermordung von sechs Millionen Juden unter der NS-Gewaltherrschaft nimmt darin eine besondere Stellung ein, der sich auch Nachbarländer Deutschlands wie etwa die Schweiz nicht entziehen können. Denn die Berner Regierung verweigerte in der Frage eines Asyls für Juden eine humanitäre Haltung.
Aber es gab in der Schweiz Akteure, die sich den vorgeschriebenen Regeln entzogen und Menschlichkeit gegenüber Hilfesuchenden zeigten. Einer von ihnen war der St. Galler Polizeikommandant Paul Grüninger, der vor 50 Jahren starb. Er rettete von 1938 bis 1939 mehreren hundert jüdischen und anderen Flüchtlingen das Leben, indem er sie im Rheintal einreisen ließ.
Im März 1939 wurde Paul Grüninger als Beamter entlassen und zwei Jahre später für seine Hilfeleistungen strafrechtlich verurteilt. Der Thurgauer Historiker Stefan Keller hat als einer der ersten die Geschichte Grüningers aufgearbeitet.

Herr Keller, wieso sollte man sich 50 Jahre nach seinem Tod noch mit Paul Grüninger beschäftigen?
Die Geschichte ist noch immer sehr aktuell und auch brisant. Denn es geht im Kern um einen Beamten, der Menschlichkeit über das Amt stellt, der das Richtige tut und nicht opportunistisch handelt im entscheidenden Moment. Und sie ist auch darum aktuell, weil es um die Existenz und das Leben von Personen geht, die gerettet werden.

Hat der Fall auch eine historische Bedeutung?
Es ist wichtig, dass die Erinnerung an die Shoah und an die Schweizer Flüchtlingspolitik während des Nationalsozialismus und dann im Zweiten Weltkrieg jeder Generation neu erzählt wird.
Der Fall Grüninger ist historisch besonders interessant, weil er die Ausnahme darstellt und dadurch die Normalität zeigt. Ein Beispiel dafür ist der Thurgauer Polizeikommandant Ernst Haudenschild, ein Freisinniger und Offizier in der Armee wie Grüninger. Nur macht er genau das Gegenteil, ist sogar stolz darauf, dass er keine Juden in den Thurgau lässt.
Was weiß man über Grüninger und seine Motive?
Paul Grüninger war ein ziemlich biederer Bürger, der sich vom Lehrer zum Spitzenbeamten hochgearbeitet hat. Ein begeisterter Fußballfan außerdem. Er scheint immun gewesen zu sein gegen antisemitische Ressentiments, die man sonst bei fast allen Amtsträgern zu dieser Zeit findet. Grüninger war kein besonders politischer Mensch, vielleicht hat er sich gerade darum anders verhalten, weil er nicht nach politischem Kalkül handelte.
Wieso dauerte Grüningers Rehabilitierung so lange?
Es gab lange Zeit eine sehr starke Identifikation der St. Galler Regierung mit jener von 1939. Man muss sehen: Deren parteipolitische Zusammensetzung war 1939 gleich wie 1993. So kam es nie zu einem wirklichen Bruch mit der Vergangenheit. Und natürlich hatten die offizielle Politik und die Polizei auch Angst vor einer Rehabilitation.
Warum?
Man fürchtete sich davor, dass Grüninger zu einem Vorbild werden könnte, dass plötzlich Polizistinnen und Polizisten nicht mehr gehorchen könnten, wenn Grüninger rehabilitiert würde. Flüchtlingspolitisch ging es in den 1990er-Jahren ja darum, verfolgte Kurden oder Tamilen auszuschaffen (abzuschieben, Anm. d. Red.)
Was ließe sich aus dem Fall Grüninger lernen?
Die entscheidende Frage bleibt: Bricht man mit dieser Vergangenheit oder nicht? Anerkennt man, dass es sich um eine verbrecherische Vergangenheit handelt oder nicht. Bei Grüninger heißt das, anzuerkennen, dass das eigentliche Verbrechen in der offiziellen Politik und nicht bei der Flüchtlingshilfe lag.
Aktuell tobt in Zürich die Debatte um die Sammlung Bührle im Kunsthaus, wo Werke präsentiert werden, die Juden nach der Vertreibung aus Nazi-Deutschland in der Not verkaufen mussten. Sehen Sie Parallelen zum Fall Grüninger?
Die Bührle-Debatte erinnert mich eher an die Frage der nachrichtenlosen Vermögen in den 1990er-Jahren. Auch damals glaubte man mit einer erschreckenden Ignoranz und Naivität, man könne sich der eigenen Verantwortung entziehen.
Es ist schon erstaunlich zu sehen, wie schnell in solchen Situationen antisemitische Ressentiments wieder auftauchen, wie schnell man also von Juden spricht, die angeblich immer Geld verlangen. Dabei verlangen sie nur die Rückgabe gestohlener Sachen.
Ihnen war es immer wichtig, die Geschichte von Grüninger aus der Perspektive der Flüchtlinge zu erzählen. Wieso?
Natürlich ließe sich diese Geschichte auch aus der Perspektive von Heinrich Rothmund erzählen, dem Chef der Schweizer Fremdenpolizei in jenen Jahren. Man könnte über sein moralisches Dilemma schreiben.
Aber dadurch lenkt man davon ab, was seine Politik für konkrete Auswirkungen auf die Flüchtlinge hatte: Für sie war es kein Dilemma, sondern eine Frage des Überlebens. Darum ist es wichtig, gerade hier immer die Perspektive jener zu suchen, die am meisten betroffen waren, an der Grenze verzweifelten und aus Mitschuld der Schweiz ins KZ deportiert wurden.