Als sich im Land der Pünktlichkeit eines Tages der Zug verspätet, zückt Dafer Schiehan entnervt schimpfend sein Smartphone. Dabei gibt es niemanden, den er hier in der Schweiz informieren müsste. Er hat auch keinen wichtigen Termin. Im Flüchtlingsheim steht ihm der ganze Tag zur freien Verfügung: zu viel Freiheit für einen jungen Menschen, der längst im Berufsleben stehen, eine Familie gründen wollte.
20 Jahre ist es her, dass der Schriftsteller Usama Al Shahmani seine irakische Heimat verlassen musste. Er hatte damals ein regimekritisches Theaterstück geschrieben: Schon nach der dritten Vorstellung an der Universität Basra wurde es verboten. Al Shahmani floh vor den Schergen des Diktators Saddam Hussein nach Europa, fand schließlich in der Schweiz Asyl.
In mehreren Romanen hat er bereits unterschiedliche Facetten seiner Geschichte verarbeitet. Sein neues Buch, „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ (Limmat Verlag), zeichnet nun die Zeit zwischen Flucht und Ankunft nach. Und es liegt nahe, im Zugreisenden Dafer Schiehan das Alter Ego des Dichters zu vermuten.
„Ich habe einfach angefangen mitzumachen“, erklärt dieser sein Verhalten auf dem Bahnsteig. Dass Züge überhaupt pünktlich kommen sollten, diese Erwartung hegt niemand, der im Irak aufgewachsen ist. Den Ärger der Einheimischen zu teilen, selbst wenn es für ihn gar keinen vernünftigen Grund gibt: Für einen Flüchtling besteht darin die Gelegenheit, sich wenigstens für einen Moment angekommen zu fühlen.

Man begreift bei der Lektüre leicht, woher das Bedürfnis nach solchen Momenten kommt. Wenn Dafer auf seinen einsamen Spaziergängen durch die ihm unwirklich anmutende Schweizer Gebirgslandschaft über seine Situation nachdenkt, kommt ihm der Zufluchtsort mehr und mehr wie eine schwer zu durchschauende Zwischenwelt vor. Wer nicht lernt, ihre komplizierten Regeln zu verstehen, der geht unter wie im Treibsand. Dann gibt es ein Zurück in die Heimat ebenso wenig wie ein Vorwärts zur Integration.
Bei seiner Befragung im Empfangszentrum Kreuzlingen etwa warnt ihn der Dolmetscher: „Sie mögen es nicht, wenn ein Flüchtling intellektuell wirkt.“ Als er dem Schweizer Beamten dennoch groß und breit erklärt, warum er in Basra Doktorand sein konnte, ohne Mitglied der regierenden Baath-Partei zu sein, erntet er entsprechend Kopfschütteln. „Ich wünsche dir, dass du Asyl bekommst“, sagt der Übersetzer anschließend. „Aber ich bezweifle es, weil du ihn verärgert hast!“
„Eine Art Wut“
Andererseits: Mit Deutschkenntnissen, merkt Dafer bald, kommt man im Zweifel weiter. So lernt er auf eigene Faust, Tag und Nacht. Intellektuell wirken und intellektuell sein, das wird in diesem Land offenbar sehr unterschiedlich beurteilt. Bildung hilft sehr wohl, man darf sie nur nicht zur Schau stellen.
Bei den Villenbewohnern im Umfeld des bunkerähnlichen Gebäudes bemerkt er „eine Art Wut“, zum Vorschein kommt sie mal offen, mal subtil. Dass die ihm zugewiesene Zwischenwelt den Einheimischen wie ein „lästiger Felsbrocken im breiten Fluss des Schweizer Luxus“ erscheinen muss, leuchtet ihm voll und ganz ein. Ja, ihm erscheint diese ehrliche Wut sogar erträglicher als jene Form des Mitleids, hinter der sich bloß Herablassung verbirgt. Und doch, wie soll sich unter diesen Bedingungen jemals wieder eine Tür in die Zukunft öffnen?

Viele Flüchtlinge versuchen es über die Liebe. Wer eine Schweizerin vom Gang zum Standesamt überzeugt, hat die Aufenthaltsbewilligung so gut wie in der Tasche, nach einigen Jahren winkt sogar die Staatsbürgerschaft. „Alle Tricks, wie man eine Europäerin zu einer Heirat überredete, schwirrten durch diese Weltenküche.“ Immer wieder kommen ehemalige Heimbewohner zu Besuch, um stolz zu zeigen, dass sie es geschafft haben. Ihre meist deutlich älteren Ehefrauen zogen es derweil vor, mit Sonnenbrille getarnt im weiter entfernt geparkten Auto zu warten.
Andere flüchten sich in die Religion. Ausgerechnet im säkularen Westen! Doch den Glauben an ein Miteinander haben diese Kandidaten ohnehin längst aufgegeben. Im umso stärkeren Beharren auf ihre kulturellen Wurzeln reden sie sich ein, es gebe für sie eine Option auf Rückkehr in die Heimat.
Wie abwegig diese Vorstellung ist, erfährt Dafer, als ihm Jahre später tatsächlich ein Besuch bei seiner Familie wieder möglich ist. Während er in der Schweiz eine Arbeitsstelle gefunden hat, Kontakte knüpfte, sich Stück für Stück eine neue Existenz aufbaute, stürzten im Irak die US-Truppen das Saddam-Regime.
Seine Peiniger von einst sind längst entmachtet, doch dafür herrschen jetzt Terroreinheiten über weite Teile des Landes. Sein neuer Pass trägt den Stempel der irakischen Botschaft in Bern: Al-Kaida-Kreise verstehen so etwas als sicheres Indiz für eine Verbindung zu westlichen Geheimdiensten. Um ein Haar entgeht er in der Wüste des Nordirak seiner Entführung.
Und auch im privaten Umfeld sind die Brücken längst eingestürzt. In der Zwischenzeit nämlich hat manche Tragödie die Familie heimgesucht, sein Bruder zum Beispiel ist seit Jahren spurlos verschwunden. „Wärst du hiergeblieben, wären viele schlimme Dinge nicht passiert“, raunt die Mutter. Die Heimat, muss Dafer erkennen, hat er gleich zweimal verloren: einmal, als er geflohen ist, und einmal, als er sie wiedersah.
Usama Al Shahmani erzählt von diesem Verlust in einer präzisen Sprache, die frei ist von jeglicher Sentimentalität. Politische Schuldzuweisungen sind in diesem Roman ebenso wenig zu finden wie einfache Rezepte für den Umgang mit Migrationsbewegungen. Stattdessen besticht dieser Roman durch seine bloße Beschreibung der Wirklichkeit: einer Zwischenwelt, in der ein Zurück nicht mehr möglich ist und ein Vorwärts nur unter großen Anstrengungen gelingt.