Wenn in diesen Wintermonaten die Sonne früh untergeht, dann beginnt der Tag für die Sportlerin Miriam Glassner. Dann packt die 31-Jährige in ihrem Büro in London die Arbeitssachen zusammen und verwandelt sich in Windeseile von der Schreibtischtäterin in die Sprinterin und Hürdenläuferin.
Jeden Abend trainiert die Konstanzerin in ihrer Wahlheimat nach dem Geldverdienen, dazu kommt eine Einheit am Samstagmorgen. Dank ihres Durchhaltevermögens ist Glassner im fortgeschrittenen Leichtathleten-Alter so schnell wie nie zuvor unterwegs. Dabei war sie vor einiger Zeit drauf und dran, ganz hinzuschmeißen.
Rückblick. 2010 hat Glassner ihr Abitur an der Geschwister-Scholl-Schule gemacht, als sie plötzlich vor einer der größten Hürden ihres Lebens steht. Seit sie mit neun Jahren beim PTSV Konstanz begonnen hat, ist die Leichtathletik ihre große Leidenschaft. Sie schafft es in den F-Kader der jüngsten Talente der Disziplinen Sprint und Sprung, dann in den D-Kader Hürden.
Regelmäßig startet sie bei Deutschen Nachwuchsmeisterschaften. Die Hürden waren von Anfang an ihre beste Disziplin. Seit 2003 hält sie den Badischen Rekord über 60m Hürden der Zwölfjährigen.

Der Hürdensprint ist eine Disziplin, in der es viel Feingefühl braucht, um im richtigen Rhythmus die 84 Zentimeter hohen Hindernisse zu überwinden. Im Sommer 2010 steht Miriam Glassner jedoch vor einer Barriere, die sich einfach nicht überwinden lassen will. „Ich hatte eine Blockade im Kopf und konnte die erste Hürde nicht mehr nehmen“, erinnert sich die 31-Jährige. Kaum fällt der Startschuss, bleibt sie wieder stehen.
Erst bei einem regionalen Wettkampf, dann ging es wieder gut bei den Schweizer Meisterschaften, passierte dann aber bei der Deutschen Jugendmeisterschaft wieder. Auch im Training klappt es nicht mehr. „Es gab keinen Unfall oder besonderen Grund“, sagt Glassner über das plötzliche Auftreten dieses Problems, für das sie lange Zeit keine Lösung findet.
Ein Jahr Pause vom Hürdenlauf
„Das war so frustrierend“, blickt sie zurück, „ich bin Hürden für so viele Jahre schnell und erfolgreich gelaufen, doch dann geht plötzlich nichts mehr und ich weiß einfach nicht, wieso.“ Ein ganzes Jahr lang lässt sie die Hürden Hürden sein, bis ihr der reine Sprint zu langweilig wird und sie die Freude an ihrem Sport verliert.
„Die meisten hätten aufgehört, ich wollte das aber nicht auf diese Weise beenden“, sagt sie, „ich habe ein gewisses Durchhaltevermögen.“
Also sucht sie sich Hilfe. Die Sprinterin beweist große Ausdauer. Glassner liest Fachbücher, geht zu einem Mentaltrainer, lernt, auf Gott zu vertrauen, macht eine Sportmentoren-Ausbildung, bei der sie eine erfolgreiche deutsche Triathletin begleitet. Je mehr sie realisiert, wie sehr sie sich selbst unter Druck gesetzt hat, desto schneller kommt die Leichtigkeit zurück – und mit ihr der Spaß.
Sie lernt, sich nicht über ihren Sport zu identifizieren und gelassener mit ihrem Hobby Leistungssport umzugehen – und in gewisser Weise auch mit sich selbst. Der Prozess, bis sie alle Hürden wieder überläuft, geht über Jahre. „Lange bin ich danach noch mit angezogener Handbremse gerannt. Die größte Herausforderung besteht darin, sich und seinen Fähigkeiten wieder zu vertrauen. Das war nicht leicht.“
Neustart in London
Das Positive daran ist, dass sie so über Umwege auch ihre eigene Berufung findet. „Alles hat einen Grund“, sagt die Konstanzerin, die heute selbst junge Sportlerinnen und Sportler betreut. „Ich will anderen helfen, die das Gleiche durchmachen. Das gab mir die Motivation, das selbst zu überwinden.“
Zu Beginn einer Weltreise lernt sie 2019 ihren Freund kennen, zu dem sie während der Corona-Pandemie nach London zieht, wo die beiden seitdem leben. Im Lockdown belegt sie an ihrer früheren Stuttgarter Uni einen Onlinekurs über Startups und baut ihr eigenes Business auf: True You Sports, eine „Herzensangelegenheit“, wie Glassner die Agentur selbst bezeichnet. 2022 schließt sie eine Ausbildung als Gesundheits- und Mentaltrainerin ab.

Heute hilft die Konstanzerin anderen Athleten im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung. „Wer bin ich und wie vermarkte ich mich? Was muss ich tun, um mental besser aufgestellt zu sein und mich nicht nur über Leistung zu identifizieren?“, erklärt Glassner, die zudem bei einer Sportagentur als Beraterin ihr Geld verdient. Ein Schlüsselerlebnis war eine Umfrage an einer Sportschule. „Ich war überrascht, wie viele der Elf- bis 18-Jährigen dort depressiv sind, unter dem Druck leiden oder Versagensängste haben“, sagt Glassner.
Schöner Nebeneffekt: Mit ihrer neuen Aufgabe kann sie auch an sich selbst arbeiten: „Anstatt mich mit anderen ständig zu vergleichen, liegt der Fokus heute auf meinem eigenen Rennen und Zeiten. Ich kann nun endlich mein Potenzial mehr ausschöpfen.“
Mit dem neuen Wissen kommt der Erfolg zurück. Anfang Dezember läuft sie leicht erkältet aus dem Training heraus in der Halle des Londoner Lee Valley Athletics Centre über 60m Hürden eine neue Bestzeit in 8,81 Sekunden. „Mit einem Hustenbonbon im Mund“, wie die 31-Jährige lachend erzählt. Über 100 Meter war sie nur einmal schneller unterwegs als 2022 (12,35sek), über 100 Meter Hürden (14,05sek) und 60 Meter in der Halle (7,88sek) purzeln weitere persönliche Rekorde.
Die neue, lockere Miriam Glassner hat wieder große Ziele: Eine 13er-Zeit über 100 Meter Hürden und ein Ticket für die Aktiven-DM, für die sie sich bereits um Haaresbreite qualifiziert hätte. Ein Ende der Laufbahn ist jedenfalls nicht in Sicht.