Anja Greiner

Irgendwann hat Rawda Abdu gelernt, zu überleben. Als sie mit 13 aus Eritrea mehr mitgezerrt wird auf die Flucht in den Sudan, als dass sie freiwillig gegangen wäre. Als sie von dort nach Libyen aufbricht, wo sie über ein Jahr im Gefängnis sitzt, so lange bis ihre Mutter in Eritrea ihr Haus verkauft und Rawda für 1000 Dollar freikauft. Als das Boot, mit dem sie über das Mittelmeer fährt, kentert, 300 der 400 Insassen sterben und sie sich an einer Planke halb verhungert über Wasser halten kann, bis die italienische Küstenwache sie rettet.

Rawda (gesprochen Rauda) versucht, auch heute noch zu überleben, zwei Jahr nach ihrer Ankunft in Deutschland. Rawda ist 17 Jahre alt. Ihr zaghaftes Lächeln und ihre zierliche Figur lassen sie jünger aussehen. Seit sechs Monaten lebt sie in einem kleinen Reihenhaus im Villinger Süden. Auf dem Boden im Wohnzimmer liegen noch Luftballons von einer Feier, im Garten steht ein Rosenbusch. Hans Engelhard, Lehrer an der Hotelfachschule, 61, seine Frau Katharina Klippstein, Physiotherapeutin, 51, und die 14-jährige Tochter Maya, haben Rawda als Pflegekind aufgenommen. Sie beobachtet, sagt Katharina Kippstein, und passt sich an. "Wenn ich sauge, nimmt sie den Staubsauger und saugt am nächsten Tag auch, wenn wir den Tisch decken, macht sie es wie wir."

Wer von beiden den Gedanken als erstes ausgesprochen hat, wissen sie nicht mehr. Nur noch, dass sie ihn zur selben Zeit hatten: Wir haben ein ungenutztes Gästezimmer und Maya war nach der Trennung ihrer Eltern unfreiwillig Einzelkind geworden. "Wir wollten einfach etwas tun, angesichts der vielen Flüchtlinge und deren Schicksal." Ihr einziger Wunsch: es sollte ein Mädchen sein, wegen Maya. Sie mussten Gesundheits- und Führungszeugnisse vorlegen, nachweisen, dass sie genügend Platz haben.

Vier Monate später saßen sie sich das erste Mal in einem Café gegenüber. Katharina Klippsteins erster Gedanke: "Oh ist die süß, die behalten wir". "Wir waren uns gleich sympathisch", sagt Hans Engelhard. Rawda war nervös, hat Kaffee mit zu viel Zucker getrunken. Das war Ende März. Eine Woche später holten sie Rawda aus der Gemeinschaftsunterkunft Erbsenlachen ab.

Maya und Rawda sind inzwischen Schwestern geworden. Mit allen Konsequenzen: "Ich schimpfe mit Rawda wie mit Maya", sagt Klippstein. "Wenn ich nur sagen würde, es ist alles toll, was du machst, wäre sie nicht meine Tochter."

Rawda und Katharina Klippstein beim Wandern. Bild: privat
Rawda und Katharina Klippstein beim Wandern. Bild: privat

Vom Jugendamt bekommen sie eine finanzielle Unterstützung, die deckt die Kosten für Essen, Kleidung, Sportverein oder medizinische Untersuchungen. Wenn mal etwas übrig bleibt, legen sie es für Rawda zur Seite.

Rawda war noch nie auf einer Schule. In den vergangenen Monaten hat sie das Alphabet gelernt. Ab Montag wird sie einen Integrationskurs in der Hotelfachschule besuchen. Ihr beruflicher Wunsch für die Zukunft? Vielleicht Altenpflegerin, vielleicht im Hotel arbeiten, sagt sie. Der Wunsch ihrer Pflegeeltern: "Dass sie viel lernt, damit sie es in der Gesellschaft nicht allzu schwer hat."

Wie erklärt man jemanden, warum man lieber den Bio-Joghurt möchte? Fängt man an, ökologische Landwirtschaft zu erklären? Oder beschließt man einfach, dass es eigentlich nicht so wichtig ist. "Man beginnt auch sich selbst und seine Art zu leben zu hinterfragen", sagt Klippstein. Wie erklärt man jemandem, der, wenn er seine Oma besuchen möchte, erst einmal zwei Stunden über Berge laufen muss, dass man hier Wandern geht. Dass man, nur zum Vergnügen, in die Berge geht? Am Anfang war es komisch für Rawda, inzwischen hat sie sich daran gewöhnt.

Probleme bereitet vor allem die Sprache. Freunde und Familie waren von der Pflegschaft begeistert. Nicht so der ein oder andere Patient von Klippstein. Es kommt vor, dass einer sich darüber beschwert, dass er für seine Behandlung zahlen müsse, während die Flüchtlinge alles bekommen würden. Klippstein sagt dann: "Seien Sie vorsichtig, ich habe selbst ein Flüchtlingskind aufgenommen." Die Patienten gehen meist beim nächsten Besuch zu einer Kollegin.

Als es darum geht, noch ein Foto zu machen, verschwindet Rawda kurz. "Sie holt ihr Kopftuch", sagt Klippstein. Sie würde sich wünschen, dass Rawda keines trägt. "Es ist schwerer in Deutschland mit Kopftuch."

Aktuelle Zahlen

Derzeit leben 65 unbegleitete minderjährige Ausländer (UMA) in der Jugendhilfe. Ende September im vergangenen Jahre waren es neun. Die UMA stammen größtenteils aus Afghanistan, aber auch aus Syrien, Gambia, Guinea, Somalia und Eritrea. Aktuell leben sieben Jugendliche in sechs Gastfamilien.