Friedrich Engelke kommt an Donnerstagvormittag zum Interviewtermin ins Café Dammert mit einer kleinen grünen Tüte. Er greift hinein, stellt den Stolperstein auf den Tisch, lehnt sich im Stuhl zurück und sagt: "Wenn der dort liegen würde, wo er hingehört, dann würde er Ihnen heute auf dem Weg von der Redaktion hierher begegnet sein." Bertha Boss steht darauf. Geborene Heymann, J.G. 1873, deportiert 1942, Theresienstadt, 1942 Treblinka, ermordet. Bertha Boss, ihr Mann und ihre drei Kinder, waren eine der wohlhabendsten Familien Villingens und wohnten in der Oberen Straße 1 (dem Eckhaus mit den Giebeln). Engelke kennt den Lebenslauf jedes einzelnen Familienmitglieds, weiß, wer wann studiert und geheiratet hat, geflohen und gestorben ist. Eine Enkelin der Familie, Silvia Boss, wird im nächsten Jahr Villingen besuchen.
Herr Engelke, wie viele solcher Schicksale haben sie im Kopf?
Friedrich Engelke: "Inzwischen wohl einige hundert."
Und wie viele Stolpersteine haben Sie?
"19 Stück habe ich damals anfertigen lassen. Die gehören dem Verein Pro Stolpersteine und sind inzwischen mit 15 Patenschaften für je 130 Euro abgedeckt. Es gibt also bereits 15 mutige Villinger, die uns vertrauen."
Warum klappt das überall, jüngstes Beispiel Tuttlingen, nur hier in VS nicht?
"Dort gibt es einen Bürgermeister und einen Gemeinderat, die einstimmig hinter der Sache stehen."
Wagen Sie bald einen neuen Vorstoß im Gemeinderat?
"Jetzt? Nein. Aber in Zukunft ..."
... Wann beginnt diese Zukunft?
"Zukunft fängt ja unmittelbar nach dem Jetzt an."
Da spricht der Wissenschaftler ...
"... Ich habe derzeit ein Projekt, ein Büchlein mit dem Arbeitstitel: 'Ein Guide zu den nichtverlegten Stolpersteinen in VS'. Darin die Vitas derer, die Opfer des Nationalsozialismus geworden sind, inzwischen sind es 26 Schicksale. Dazu gibt es einen Laufplan, beispielsweise zum Haus in der Gerberstraße 33. Im Führer sind dann bildhaft die vier Stolpersteine auf dem Gehweg verlegt."
Wie viele Mahnwachen wird es dieses Mal geben?
"Geplant sind elf. Die erste ist jetzt am Sonntag, 22. Oktober, um 19 Uhr, am Bahnhofsvorplatz in Villingen. Das Datum ist deswegen gewählt, weil es der Tag ist, an dem die Villinger Juden vor 77 Jahren nach Frankreich deportiert wurden."
Gibt es ein Schicksal, dass Sie besonders berührt hat?
Engelke stützt seinen Kopf in beide Hände. "Schicksale auf eine Waage legen? Das kann ich nicht. Berühren tun sich mich alle. Ich könnte so viele Details nennen, die fallen mir alle ein." Er beginnt von Seligmann Hirsch zu erzählen. Auch der wurde am 22. Oktober deportiert. Er überlebt drei Lager. 1944 wird er mit dem letzten Transport nach Drancy bei Paris gebracht. Von dort nach Auschwitz. "Den Gasangriff im Ersten Weltkrieg hat er überlebt, den in Auschwitz..." Engelke schüttelt den Kopf. "Ich bin schon manchmal den Tränen nahe gewesen, bei den Mahnwachen."
Wie viele Stunden am Tag beschäftigen Sie sich mit der Recherche?
"Es gibt Wochen, in denen nicht eine Minute. Und es gibt Tage, da sagt meine Frau irgendwann: 'Rich, jetzt lasse es gut sein'. In den letzten zwei Jahren bin ich 12 000 Kilometer gefahren. Allein sechsmal war ich in Berlin im Bundesarchiv, da gehe ich dann morgens hin und bleibe den Tag über dort. Quellen erschließen ist Arbeit."
Müssen Sie nach den Recherchen manchmal einen langen Spaziergang machen, weil es zum Teil so grausam ist, was Sie lesen?
"Da treffen Sie einen guten Punkt. Ich gehe jeden Tag eineinhalb Stunden spazieren. Ich lege mich auch gerne noch in eine Wiese. Ich habe ein ganz gutes Verhältnis gefunden, nicht meinen Kopf abzuschalten, aber meine Seele baumeln zu lassen. Tatsächlich würde ich fast niemandem raten, dass, was ich mache zu tun, wenn er nicht so gefestigt ist, wie ich."
Was berührt Sie bei den Geschichten am meisten?
"Festzustellen, wie aus einem Menschen, der in eine Familie, eine Nachbarschaft eingebunden war, ein einsamer Mensch wird, ein Alleingelassener."
Wie legen Sie fest, welche Schicksale Sie erzählen?
"In der Mitgliederversammlung unseres Vereins. Das führt manchmal auch zu Diskussionen. Manche sehen eine Ermüdung in der Wiederholung. Wir befassen uns schließlich immer wieder mit den gleichen Schicksalen, aber wir bemühen uns, immer wieder weitere Details zu finden."
Zur Person
Friedrich Engelke ist 75 Jahre alt, als Vorsitzender des Vereins Pro Stolpersteine VS setzt er sich seit Jahren für die Erinnerungskultur in der Doppelstadt ein. Engelke ist promovierter Physiker und Mathematiker und als Lehrbeauftragter an der Dualen Hochschule in Schwenningen tätig. (ang)