Mit dem Projekt „Das dritte Reich und wir“ versucht eine Projektgruppe aus St. Georgen mit Unterstützung der Universität Gießen seit knapp einem Jahr, die bislang nur bruchstückhaft überlieferte Zeit des Nationalsozialismus in St. Georgen aufzuarbeiten.

Von Mitglied aus eigener Partei verraten

Einer der engagierten Mitglieder der Workshops ist Jörg Böcking. Er hat die Schrecken der NS-Diktatur am Beispiel von Adam Göbel (1908 bis 2000) in einem Buch aufgearbeitet. Dessen Leben war durch Verrat eines anderen Mitglied der SPD von den Grausamkeiten des NS-Regimes durch die Einlieferung in eine Nervenheilanstalt und Zwangskastration unwiderruflich beeinträchtigt, was ihn zeitlebens traumatisierte.

Jörg Böcking liest eine Passage aus seinem Buch Video: Sprich, Roland

Adam Göbel war kein gebürtiger St. Georgener. Geboren 1908 in Hessen, kam er 1926 nach St. Georgen, wo er als Bauglaser arbeitete. 1929 trat er in die SPD ein und wurde dort zum Schriftführer gewählt. Als die politischen Parteien mit Beginn des Naziregimes verboten wurden, hat Adam Göbel, gemeinsam mit zwei weiteren Parteigenossen, dafür gesorgt, dass die Parteizeitung „Vorwärts“, die in Prag gedruckt und illegal bis Offenburg geschmuggelt wurde, auf geheimen Wegen nach St. Georgen kam.

Zeitlebens traumatisiert

Die Nazis bekamen davon Wind und kauften ein ehemaliges Parteimitglied, der die Männer prompt verpfiff. Die Folge waren eine mehrmonatige Haftstrafe, die Adam Göbel seelisch zerstörte, wie aus Aufzeichnungen hervorgeht. Und die nicht das Ende eines Martyriums sein sollte, das Adam Göbel traumatisch bis an sein Lebensende prägte.

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Wie kommt Jörg Böcking dazu, die Geschichte von Adam Göbel detailliert aufzuarbeiten? „Ich habe Adam Göbel im Zuge der Recherche für die Erstellung einer Festschrift zum 90-jährigen Bestehen des SPD-Ortsvereins mehrfach interviewt“, sagt Jörg Böcking. Dadurch sei ein Vertrauensverhältnis entstanden.

Allerdings bemerkte Böcking, dass Göbel, wenn die Sprache auf die Ereignisse im Dritten Reich kam, innerlich aufgewühlt war und Böcking hakte nicht weiter nach. Als Adam Göbel im 26. Februar 2000 starb, habe ihm dieser über einen Rechtsanwalt Aufzeichnungen aus den Jahren 1933 bis 1953 zukommen lassen. „Aus persönlichen Gründen“, wie er sagt, habe Jörg Böcking diese Dokumente jedoch nicht angerührt.

Als Gerhard Mengesdorf als Mitinitiator der Projektgruppe „Das Dritte Reich und wir“ bei ihm anfragte, ob er nicht an dem Projekt mitarbeiten wolle, sagte Böcking sofort zu. „Ich sah dies als Möglichkeit, der inneren Verpflichtung den Eheleuten Göbel gegenüber gerecht zu werden“, beschreibt der 82-Jährige seine Motivation, das, was Adam Göbel in den 1930er-Jahren widerfahren ist, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Vergebliche Anträge auf Entschädigung

Der Verrat des ehemaligen Parteifreundes Kurt Wössner und die Verhöre durch die Gestapo, achtmonatige Inhaftierung und Diskriminierung beeinträchtigte Adam Göbel nachhaltig. Als er 1935 wegen einer ernsthaften Nervenstörung in ärztlicher Behandlung war, wurde ihm Schizophrenie diagnostiziert. Zur Heilung wurde er vom Erbgesundheitsgericht Donaueschingen in eine Nervenklinik nach Freiburg überwiesen.

Unter Zwang wurde er jedoch in die Heil- und Pflegeanstalt auf die Insel Reichenau gebracht. Dort wurde er „aufgrund seiner Erbkrankheit unfruchtbar gemacht“. Eine damals gängige Methode der Nazis im Sinne der „Rassenhygiene“.

Böcking ist überzeugt, „dass nur die Liebe und Unterstützung seiner Frau Marie ihn danach am Leben gehalten hat“, sagt Böcking.

„Ich hoffe, dass ich mit der Aufarbeitung dem Ansinnen von Adam Göbel gerecht geworden bin.“
Jörg Böcking, Buchautor

Was Jörg Böcking an der Person Adam Göbel nachhaltig beeindruckte, ist der Umstand, dass Adam Göbel, dem so viel Unrecht widerfahren ist und dessen mehrfache Anträge auf Entschädigung für die Zwangssterilisation vor den Gerichten der jungen Bundesrepublik abgeschmettert wurden, sich kommunalpolitisch engagierte.

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Zwischen 1945 und 1950 galt er als wichtiger Motor beim Aufbau der Partei und der Gemeinde. Göbel kandidierte schließlich für den St. Georgener Gemeinderat, wo er von 1950 bis 1971 für die SPD im Gremium saß. Für sein Engagement erhielt er später die Willy-Brandt-Medaille.

Ungefähr ein Jahr dauerte es, bis Jörg Böcking die Dokumente und Schriftsätze, die von Adam Göbel handschriftlich verfasst und teilweise kaum noch zu entziffern waren, ausgewertet hat. „Ich hoffe, dass ich mit der Aufarbeitung dem Ansinnen von Adam Göbel gerecht geworden bin“, sagt Jörg Böcking.