Im Rathaus wurde nun die Ausstellung „Verdrängt, verdeckt, vergessen“ über die Geschehnisse in St. Georgen im Dritten Reich eröffnet. In den Wortbeiträgen schwang, neben der Betonung auf die Wichtigkeit der Aufarbeitung der Zeit des Nazi-Regimes in St. Georgen, auch Sorge bezüglich politischer Entwicklungen mit sowie die Mahnung, alles zu unternehmen, um derartige Strömungen im Keim zu ersticken.
Die Ausstellung ist das Ergebnis einer eineinhalbjährigen, intensiven Recherchearbeit von rund zwei Dutzend Mitgliedern einer Projektgruppe, die mit aktiver Unterstützung zahlreicher Bürger aus St. Georgen Material in Form von Fundstücken, Dokumenten oder Erinnerungen zusammentrugen. Diese fügten sich am Ende wie Mosaiksteine zu einem Gesamt- aber längst noch nicht vollständigen Bild dessen zusammen, was während der Zeit des Nazi-Regimes in St. Georgen geschah.
Nicht immer sei es den Menschen dabei leicht gefallen, über die Ereignisse zu sprechen. „Mancher wollte die Kiste der Erinnerungen in seinem Kopf nicht mehr öffnen. Andere waren froh, etwas daraus preisgeben zu können“, fasste Clemens Tangerding von der Uni Gießen, die das Projekt wissenschaftlich begleitete, die Bandbreite der Emotionen zusammen, die hinter diesem Projekt stecken.
Rieger lobt Mut der Gruppe
Mehr als 1000 Exponate seien am Ende zusammengekommen, von denen nur ein Teil in der Ausstellung gezeigt werden können. Ein attestierter „Überdruss am Nationalsozialismus“ in der Bevölkerung habe den Impuls gegeben, das wissenschaftliche begleitete Projekt „Das Dritte Reich und wir“ ins Leben zu rufen (siehe Infokasten).
Bürgermeister Michael Rieger begrüßte das Engagement der Projektgruppe und zollte den Beteiligten große Anerkennung. „Es brauchte viel Mut, mit diesem schwierigen Thema auf die Menschen zuzugehen.“ Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sei „wichtiger als je zuvor“.
Nazi-Ideologie und Fremdenhass seien nicht mit dem Nazi-Regime untergegangen. Die Aufarbeitung dieser Zeit sei umso wichtiger, „weil es immer weniger Spuren und Zeitzeugen gibt“. Das Dritte Reich sei für viele heute Lebenden nur noch Geschichte und Vergangenheit. Doch Rieger sieht auch große Hoffnung. „Es gibt in der heutigen Generation genügend junge Menschen, für die das ‚Nie wieder‘ große Gültigkeit hat.“
Gerhard Mengesdorf, der die Projektgruppe gemeinsam mit Ute Scholz leitete, sagte, dass es mit der Aufarbeitung der NS-Zeit nicht um Schuldzuweisungen gehe. „Aber wir wollen anregen, darüber zu sprechen.“ Die Projektbeteiligten hätten bei den Vorbereitungen viel Rückmeldung bekommen, „die meist zustimmend, teilweise skeptisch bis hin zu der Meinung gewesen seien, man möge die Vergangenheit endlich ruhen lassen“. Offenen Widerstand habe es dagegen keinen gegeben.
Mengesdorf unterstrich die Wichtigkeit der Erinnerung ebenfalls. „Nationalismus hat Konjunktur, das führt zum Krieg“, wie er am Beispiel des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine festmachte. Deshalb sei es wichtig, so lange an das Geschehene zu erinnern, „so lange braune Scheiße noch in manchen Köpfen wabert“. Jeder andere Ausdruck für derartiges Gedankengut sei Verharmlosung.
Dass sich die junge Generation durchaus mit dem Thema befasst, zeigte Selina Wagner vom Jugendgemeinderat. „Die Ausstellung setzt da an, wo es am meisten schmerzt.“ Es sei keineswegs so, dass sich die Jugend nicht für das Thema interessiere. Es fehle vielen jungen Menschen aber die Verbindung. Eine Umfrage unter Schülern habe ergeben, dass viele mit dem Begriff Euthanasie nichts mehr anfangen können. Die Ausstellung könne dazu beitragen, das zu ändern. „Was zählt, ist das, was wir aus Geschichte machen.“
Der evangelische Pfarrer Roland Scharfenberg hegte den Wunsch, dass die Ausstellung helfen möge, das Vergangene aufzuarbeiten, und fügte dem Titel noch das Adjektiv „vergeben“ hinzu. Kreisarchivar Clemens Joos attestierte dem St. Georgener Projekt Leuchtturmcharakter. Um die Aufzeichnungen aus der NS-Zeit dauerhaft zu archivieren, appellierte er an die Verwaltung, beim Rathaus-Umbau das Stadtarchiv ausreichend zu berücksichtigen.
Öffnungszeiten
Das Projekt „Das Dritte Reich und Wir“ ist ein gemeinsames Projekt der Justus-Liebig-Universität Gießen und des Deutschen Feuerwehrverbands Berlin. Zehn deutsche Kommunen arbeiten dabei unter wissenschaftlicher Begleitung ihre Zeit des Nationalsozialismus während des Dritten Reichs auf. Die Ausstellung „Verdrängt, verdeckt, vergessen“ ist bis zum 6. April im Untergeschoss des Rathauses während während der Öffnungszeiten zu sehen.