Der Vertrag war unterschrieben. Am 1. September hätte eigentlich die neue Auszubildende im Villinger Friseursalon Manger-Milia starten sollen. Eine Woche vorher sprang die junge Frau ab. Ersatz? Nicht in Sicht. Gab es früher noch bis zu 30 Kandidaten, die sich um eine Ausbildung zum Friseur bewarben, waren es in diesem Jahr gerade einmal drei, sagt Anna-Maria Milia.
Für den Familienbetrieb keine einfache Situation. „Man stimmt ja die Termine entsprechend ab“, sagt die 38-Jährige. Haare waschen, Haarfarbe ausspülen – typische Aufgaben, die von den Lehrlingen übernommen werden, während die Gesellen beim nächsten Kunden schon mit Schere oder Farbpinsel zugange sind. Fehlt der Azubi, muss der Zeitplan deutlich enger getaktet werden.

Der Villinger Friseursalon ist mit diesem Problem nicht alleine. Eine aktuelle Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) vom August zeigt: Von 15.000 bundesweit befragten Unternehmen konnten 42 Prozent nicht alle offenen Lehrstellen besetzen. Demnach werde es immer schwieriger, überhaupt passende Kandidaten zu finden. Und immer häufiger gebe es gar keine Bewerber, so der DIHK in seiner Analyse.
Eltern werden vorgeschickt
Wenn Anna-Maria Milia daran denkt, was für Bewerbungen zum Teil bei ihr abgegeben werden, schüttelt sie verständnislos den Kopf. „Manchmal ist es ein einzelnes Blatt Papier, teilweise mit Flecken darauf und das Ganze steckt nicht mal in einer Bewerbungsmappe.“ Sie hat das Gefühl, dass bei vielen jungen Leuten kein Interesse vorhanden ist, sich überhaupt zu bewerben. „Manche schicken sogar ihre Eltern vorbei.“
Nachdem die neue Auszubildende abgesprungen ist, ist die Stelle im Friseursalon nach wie vor unbesetzt. „Dabei sind wir da schon relativ locker“, sagt Milia. Theoretisch könnte jetzt noch jemand einsteigen, auch Quereinsteiger seien willkommen.
74 offene Handwerks-Lehrstellen
Die erste Zeit als Geselle oder Gesellin sei zwar eine Durststrecke: „Man hat noch keine Stammkunden, somit nicht viele Termine und dadurch natürlich auch weniger Trinkgeld.“ Habe man sich aber seinen Kundenstamm erarbeitet, sehe das anders aus. Schwarzmüller liebt ihren Beruf auch nach mehr als 20 Jahren: „Ich würde es wieder genauso machen.“
74 offene Lehrstellen im Handwerk gibt es – Stand Ende September 2022 – im Schwarzwald-Baar-Kreis, zumindest sind diese gemeldet. Vom Anlagenmechaniker über die Bestattungsfachkraft, Fleischer und Zahntechniker ist alles dabei.

„Es sind vermutlich einige mehr, denn die Betriebe sind nicht verpflichtet, die Lehrstellen bei uns zu melden“, sagt Maria Grundler, Fachbereichsleitung Nachwuchswerbung bei der Handwerkskammer Konstanz. Die meisten Angebote gebe es im Bereich Bau und Energie.
Die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe im Kammerbezirk sei durchweg hoch. Gleichwohl ist auch bei der Kammer Thema, dass nicht alle Lehrstellen besetzt werden können. Woran liegt‘s?
Schule statt Ausbildung
„Wir beobachten, dass viele junge Menschen noch in der Schule bleiben, anstatt sich für eine duale Ausbildung zu entscheiden“, sagt Grundler. Die Unsicherheit sei oft groß, zumal während der Pandemie Berufsvorbereitung an den Schulen kaum stattfand, weil Praktika nicht möglich waren. Hinzu kam, dass die Lehrer genug damit zu tun hatten, digitalen Unterricht in den Hauptfächern zu halten und das Homeschooling zu begleiten.
Praktika: Je früher, desto besser
„Für uns als Handwerkskammer gilt das Credo: Praktika sind das A und O“, sagt Maria Grundler. Statt Theorie heißt es dann: „Wie fühlt es sich an, mit anzupacken, wie sieht ein Betrieb von innen aus?“ Und: „Je früher, umso besser. Die achte Klasse ist ein idealer Zeitpunkt für ein erstes Praktikum.“
Dass Betriebe sich schwer tun, Azubis zu finden, beobachtet man auch bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) Schwarzwald-Baar-Heuberg. „Es trifft alle Branchen, wobei die Gastronomie sicher einen größeren Mangel hat. Büroberufe gehen noch ganz gut“, sagt Miriam Kammerer, stellvertretende Geschäftsbereichsleiterin Berufliche Bildung.

Ein Faktor sei sicher der demographische Wandel: „Es gibt weniger Jugendliche, die eine Ausbildung beginnen könnten.“ Und: „Die Statistik gibt es zwar nicht her, aber die Vermutung liegt nahe, dass seit Beginn der Pandemie viele länger in der Schule bleiben, nach der Mittleren Reife etwa noch das Technische oder das Wirtschaftsgymnasium besuchen.“
Auch Miriam Kammerer hat beobachtet, dass potenzielle Azubis mitunter nicht selbstständig sind: „Da rufen schon mal Eltern an und lassen sich für ihre Kinder beraten.“ Sie gibt aber auch zu bedenken, dass die Schulschließungen während der Pandemie der Berufsvorbereitung an den Schulen einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht hat – schon allein dadurch, dass keinerlei Praktika stattfinden konnten.
Pandemie bringt soziale Probleme
„Wenn dann wieder Schule war, wurde anderes nachgeholt. Von Schulleitern wissen wir, dass es nach den langen Schulschließungen viele soziale Probleme gab, die erst einmal aufgearbeitet werden mussten“, sagt Miriam Kammerer.
Hinzu komme der von der Wirtschaft immer wieder kritisierte „Akademisierungswahn“, der dazu führe, dass eine duale Ausbildung von vielen Schulabgängern gar nicht in Erwägung gezogen werde. Dabei sei gerade eine duale Ausbildung die Basis für eine erfolgreiche Berufslaufbahn, bei der bei entsprechender Weiterbildung durchaus Akademikergehälter erzielt werden könnten.
Nach wie vor gebe es freie Lehrstellen – nach jüngsten Stand allein in der IHK-Lehrstellenbörse 500 an der Zahl. Genaue Statistiken über unbesetzte Stellen gebe es allerdings nicht, diese würden auch von der Arbeitsagentur nicht geführt, sagt Miriam Kammerer. „Es ist auch jetzt noch nicht zu spät, sich einen Ausbildungsplatz zu sichern.“