Ein Tischkicker, hellgrau-türkis gestrichene Wände, gemütliche Sofas. Auf dem Boden ein halb fertiges 1000-Teile-Puzzle, auf dem Tisch bunte Trinkbecher, große Fenster mit Blick auf Wald und grüne Wiesen. Der Aufenthaltsbereich könnte sich auch in einem Jugendzentrum befinden.

Doch da ist die geschlossene Eingangstüre mit Schleuse, der komplett mit einem Schutznetz gesicherte Balkon. Eine extrem zerbrechliche junge Frau in Hausschuhen huscht über den Gang, im Nasenloch ein kleiner Schlauch, der sie künstlich ernährt: Die Clearing- und Krisenstation der Bad Dürrheimer Luisenklinik ist eine so genannte beschützende Station.
Neues Stockwerk auf bestehendem Gebäude
Seit Kurzem befindet sie sich in einem neu auf das bestehende Gebäude aufgesetzte Stockwerk. Die Station selbst besteht seit Langem. „Als Vollversorger sind wir verpflichtet, eine solche Station anzubieten“, erklärt Marianne Ledwon-Feuerstein, Chefärztin und Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Erste Hilfe bei psychischen Krisen
Hierher kommen Kinder und Jugendliche – auch gegen ihren Willen – wenn sie sich in akuten Krisensituationen befinden, wenn sie versuchen, sich zu suizidieren oder wenn eine Essstörung sie so geschwächt hat, dass sie zeitweise über eine Magensonde ernährt werden müssen.

Zum 1. November 2022 hat die Luisenklinik im Rahmen des Sonderprogramms „Kinder- und Jugendpsychiatrie Baden-Württemberg“ sechs weitere vollstationäre Betten für Kinder und Jugendliche zugesprochen bekommen; im April 2020 kamen bereits zwei dazu.
Marianne Ledwon-Feuerstein ist froh über die erweiterte Kapazität. 55 Prozent der jungen Patienten sind Notaufnahmen, was wiederum heißt, dass die nicht-Notfallpatienten auf der Warteliste nach hinten rutschen.
Luft nach oben ist immer, gerade, was die Versorgung psychisch Erkrankter angeht. „Deutschland steht bei der Versorgung im internationalen Vergleich noch gut da“, sagt Norbert Grulke, ärztlicher Direktor der Luisenklinik. Er sagt aber auch: „Die Wartelisten werden tendenziell länger.“ Das gehe auch zu Lasten der Mitarbeiter, weil man versuche, die Versorgung aufrecht zu erhalten, räumt er ein.
Hohes Stresslevel bei jungen Menschen
Die Pandemie fordert ihren Tribut – bis heute. Im Februar sagte Bundesfamilienministerin Lisa Paus, dass 73 Prozent der jungen Menschen sind auch durch die Einschränkungen während der Pandemie bis heute enorm gestresst seien.
„Ich habe mir damals sofort gedacht, dass da wahnsinnig viel auf Kinder und Jugendliche zukommt.“Marianne Ledwon-Feuerstein, Chefärztin
Das bekommen sie auch in der Luisenklinik zu spüren. „Ich habe mir damals sofort gedacht, dass da wahnsinnig viel auf Kinder und Jugendliche zukommt“, sagt Marianne Ledwon-Feuerstein.
Kontrolle gegen den Kontrollverlust
So seien bei den jungen Menschen verstärkt Zwangs- und Essstörungen. Krankheitsbilder, die viel mit Kontrolle zu tun haben, in Zeiten, in denen der persönliche Kontrollverlust durch Lockdowns und stringente Maßnahmen immens war. „Krankheitsbilder, die sehr schwer zu behandeln sind“, sagt Norbert Grulke.

Gerade einmal 30 Prozent der essgestörten Patienten schaffen es, sich von der Magersucht zu befreien, sagt Marianne Ledwon-Feuerstein. Längere und chronische Verläufe seien leider keine Seltenheit.
Zeitlich verdichtet sich die Zunahme der Fälle seit dem Jahresende 2020: Sei der erste Lockdown im Frühjahr 2020 für viele noch zu ertragen gewesen, habe der zweite ab November 2020 weitaus schlimmer gewesen.

Generell beobachten die Mediziner der Luisenklinik, dass die Schwere der Krankheiten ihrer jungen Patienten zugenommen hat.
Angst davor, gesund zu werden
Ausschlaggebend sei dabei nicht beispielsweise der Body Mass Index einer Magersüchtigen, sondern die Frage, wie stark die Patientin in der Erkrankung verhaftet sei. „Manche haben regelrecht Angst davor, gesund zu werden, weil sie sich dann wieder dem Leben stellen müssen“, sagt Grulke.
Zwangserkrankungen seien oft erblich bedingt, Eltern von Patienten selbst oft nie in Behandlung gewesen. „Da haben sich viele Dynamiken entwickelt, die Eltern nicht stemmen können.“
Krisentelefon ist immer besetzt
Nach jedem Wochenende sei die beschützende Station mit ihren acht Plätzen immer voll. „Das sind drei Tage, an denen es keine ambulanten Hilfen gibt“, sagt Marianne Ledwon-Feuerstein. „Ab Freitagmittag sind wir am Zug.“ 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche ist außerdem das Krisentelefon der Klinik (07726 93900) besetzt.
Nach Möglichkeit werden die Patienten so schnell wie möglich auf eine Normalstation verlegt. Bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung geht das jedoch nicht.

Jugendliche geraten schnell in Krisen, weiß Marianne Ledwon-Feuerstein. „Auch Kränkungen können eine Krise auslösen.“ Umso wichtiger sei es, das Umfeld zu sensibilisieren. „Diejenigen, die zu uns kommen – denen können wir helfen. Das Problem sind die, die nicht zu uns kommen.“