Dramatische Tage im März – ein erstes, vorsichtiges Durchatmen im Mai: Landrätin Stefanie Bürkle schilderte in einer Pressekonferenz die turbulente Entwicklung der Corona-Krise im Landkreis Sigmaringen. „Ende März haben wir in den Abgrund geschaut“, sagte Bürkle. Am 29. März hatte das Gesundheitsamt 85 Neuinfizierte an nur einem einzigen Tag zählen müssen. Anfang April war Sigmaringen mit 418 Infizierten pro 100 000 Einwohner schließlich einer der am heftigsten betroffenen Landkreise in Baden-Württemberg und sogar unter den Top 10 Deutschlands zu finden.
Die aktuelle Lage sieht deutlich besser aus: Laut Landratsamt war Sigmaringen am 19. Mai der erste Kreis in Baden-Württemberg, der innerhalb einer Woche überhaupt keine Neuinfizierten zu vermelden hatte. „Wir können ein bisschen durchatmen“, sagt Stefanie Bürkle. Durch die vielen Lockerungen in letzter Zeit rechne das Gesundheitsamt aber wieder mit mehr Infizierten. „Die Gefahr ist noch nicht gebannt und wir bitten auch die Bürger, weiter achtsam zu bleiben“, appellierte die Landrätin.
Die meisten Ansteckungen finden in den Haushalten statt
Deutliche Worte fand Ulrike Hart, stellvertretende Leiterin des Gesundheitsamtes: „Das ist tatsächlich ein böses Virus„, betonte sie. Während bei rund 80 Prozent der Fälle im Kreis ein relativ milder Verlauf festgestellt worden sei, „geschehen bei den übrigen Fällen Dinge, die für mich bisher unerhört waren“, sagte sie. Zum Beispiel, wenn ein älterer Mensch, der bislang noch recht fit war und täglich spazieren ging, Symptome einer Infektion aufweist und nach kürzester Zeit schon verstirbt. „Deshalb müssen wir klug und besonnen bleiben“, sagte Hart.
Es sei wichtig, dass die Bürger Masken tragen und die Abstandsregeln einhalten. „Die meisten Ansteckungen fanden in den Haushalten statt“, erläuterte sie. Das Virus werde von außen in die Familien getragen. Warum gerade der Landkreis Sigmaringen so stark betroffen war, ist bis heute nicht klar. Es habe keine Veranstaltung oder einzelnen Hotspot gegeben, von dem alles ausging. Hart geht davon aus, dass die vielen Rückkehrer aus den Ski-Urlauben eine große Rolle bei der Verbreitung im Landkreis gespielt haben.
Gesundheitsamt zeitweise von 23 auf 82 Mitarbeiter aufgestockt
Um alle Kontaktpersonen nachverfolgen zu können sowie den Beratungsbedarf bei Bürgern und Einrichtungen zu decken, hat Sozialdezernent Frank Veser fast 60 Mitarbeiter aus anderen Fachbereichen zur Untersützung in das Gesundheitsamt gesandt. Ursprünglich arbeiten 23 Mitarbeiter im Gesundheitsamt, zu Spitzenzeiten habe man dort mit 82 Personen gearbeitet, so Frank Veser.
Sozialdezernent plant mit zwölf zusätzlichen Stellen bis Sommer 2021
Inzwischen seien die meisten Mitarbeiter wieder in ihre Fachbereiche zurückgeführt worden. Derzeit arbeiten im Gesundheitsamt aktuell 41 Personen. Dauerhaft plant Frank Veser mit zwölf zusätzlichen Stellen, die das Gesundheitsamt bis mindestens Sommer 2021 als Unterstützung erhalten soll. „Tritt ein Infektionsgeschehen auf, müssen wir innerhalb von 24 Stunden 34 ausgebildete Mitarbeiter in der Kontaktpersonennachverfolgung zur Verfügung stellen“, erläutert Veser die Vorgaben des Bundes.
Pro 20 000 Einwohner sollen fünf Mitarbeiter im Gesundheitsamt für das Kontaktpersonenmanagement zur Verfügung stehen. Das bedeute laut Veser Kosten von 800 000 Euro.
Hauptlast der Personalkosten lag bisher beim Landkreis
Der Landkreis sei dringend auf die Hilfe des Landes angewiesen, denn man habe in den vergangenen Monaten überwiegend selbst das zusätzliche Personal gestellt, obwohl dies eigentlich Aufgabe des Landes wäre, kritisierte Frank Veser. „Bislang haben wir keinen Containmentscout, der hilft, die Kontaktpersonen bei Corona-Fällen zu ermitteln, zugeteilt bekommen. Von den Landesbehörden erhielten wir bislang Unterstützung durch zwei Veterinärinnen der CVUA, die leider nach einem Monat wieder an ihre Dienststelle zurückkehren müssen“, informierte der Sozialdezernent.
Das ärztliche Personal habe durch Aufstockung des ärztlichen Personals und eine befristete zusätzliche Halbtagsstelle auf Kosten des Landes etwas verstärkt werden können. Die Hauptlast der Personalaufwendungen liege bisher aber beim Landkreis. „Wir hoffen auf weitere Hilfszusagen durch das Sozialministerium“ , betonte Veser.
Einnahmen sinken, während die Ausgaben weiter steigen
Der Kreis stehe vor enormen finanziellen Herausforderungen. Zum einen bei den Einnahmen durch einbrechende Steuern und Zuweisungen. Zum anderen aber auch bei den Ausgaben: Das Jobcenter rechne mit 250 neuen Bedarfsgemeinschaften, was rund 900 000 Euro zusätzliche Kosten in diesem Bereich bedeuten werden. Auch bei anderen sozialen Leistungen rechnet der Sozialdezernent mit Mehrausgaben durch die Corona-Kreise.
Land Baden-Württemberg soll schnell und dauerhaft helfen
200 000 Euro seien bislang schon in Schutzausrüstung geflossen, 120 000 Euro seien etwa für das Testcenter in Hohentengen sowie in IT- und Schutzmaßnahmen in der Verwaltung ausgegeben worden. „Das Land muss uns jetzt schnell und dauerhaft mit zusätzlichem Personal und Finanzmitteln helfen“, meinte Stefanie Bürkle.
In jedem Einzelfall spezifische Maßnahmen abstimmen
Treten durch die Lockerungen wieder mehr Infektionen im Landkreis auf, wäre dieser mehr denn je gefordert. Denn die politische Vorgabe ist, in Abstimmung mit dem Land und den Gemeinden regionale und spezifische Einschränkungen zu erlassen. „Wir müssen in jedem Einzelfall konkret schauen, welche Maßnahmen sinnvoll sind. Das wird immer auch vom jeweiligen Ausbruchsgeschehen abhängig sein“, so Stefanie Bürkle. Generell sei man jetzt besser aufgestellt und gestärkt durch die bisherigen Erfahrungen, meint die Landrätin, sodass schneller und zielgerichteter auf eine mögliche zweite Welle von Infektionen reagiert werden könne.
So verlief die Krise bisher im Kreis
Am 9. März wurde bei einem ersten Patienten im Landkreis das Coranavirus festgestellt. Am Abend wurde eine Pressekonferenz einberufen, um den Bürgern zu erklären, was dies nun für den Kreis bedeutet. Was es wirklich heißen sollte und was tatsächlich auf das Gesundheitsamt zukam, konnte damals noch niemand ahnen. „Zwei Tage später hatten wir bereits vier Fälle in drei Gemeinden und richteten den Verwaltungsstab ein, in der sich alle Akteure später täglich abstimmten“, berichtete Landrätin Stefanie Bürkle.
Immer mehr Menschen begannen sich große Sorgen wegen des Virus zu machen: Am 16. März riefen 1500 Bürger auf der Corona-Hotline des Landkreises an. Tatsächlich gab es immer mehr Infektionen: Am 29. März vermeldete das Gesundheitsamt 85 Neuinfizierte allein an einem Tag. Die Tage zuvor waren es jeweils um die 40 gewesen, in den darauf folgenden Tagen sollten es 50 und 76 neue Infizierte sein.
Von nun an waren alle Kräfte gefordert. „Viele Mitarbeiter im Gesundheitsamt haben über Wochen ohne einen freien Tag durchgearbeitet. Sie haben schier Unglaubliches geleistet“, betonte Stefanie Bürkle. Und auch die Kliniken liefen voll: Am 27. März lagen 26 Patienten auf der Coronastation im Krankenhaus Sigmaringen. Eine Woche später waren neun von elf Beatmungsgeräten belegt. Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen wirkten bis dato nur langsam.
Nach den Osterfeiertagen zählte Sigmaringen zu den am heftigsten betroffenen Kreisen in Baden-Württemberg und war auch unter den zehn Gemeinden und Städten mit den meisten Infizierten in Deutschland zu finden. 567 Menschen waren infiziert; erst 222 waren wieder genesen. Pro 100 000 Einwohner wurden 418 vom Virus betroffene Menschen gezählt. Anfang April waren die ersten Fälle in der Behinderten- und Altenhilfe aufgetreten.
Danach fingen die Maßnahmen auch im Landkreis zu wirken an. Am 26. Mai wurden 782 mit dem Virus infizierte Personen gezählt. Bei 740 Menschen war die Quarantäne beendet. „Damit ist der Kreis weit von der kritischen Marke von 50 Fällen pro 100 000 Einwohner entfernt“, ist Stefanie Bürkle erleichtert. Am 19. Mai war Sigmaringen der erste Landkreis in Baden-Württemberg, der innerhalb einer Woche keine Neuinfizierten zu vermelden hatte. (slo)