Ein mehrtägiges Lektüreseminar stellte das Thema „Heidegger und der Nationalsozialismus“ in den Fokus. Die Teilnehmenden direkt vor Ort im Meßkircher Schloss und online zugeschaltet aus aller Welt befassten sich intensiv mit Heideggers Texten, darunter die Lektoratsrede und Briefe an seinen Bruder Fritz. Es erstaunte, dass zu diesem erkenntnisreichen Lektüreseminar zu Heideggers Nationalsozialismus und Antisemitismus nicht mehr Interessierte aus Meßkirch ins Schloss gekommen waren. Mit der Philosophie Martin Heideggers befassten sich in diesem Monat zwei weitere Veranstaltungen unter der Leitung von Alfred Denker. Als Abendveranstaltung widmete sich das Philosophische Café dabei der Frage „Was ist der Mensch?“, die im Anschluss eine rege Diskussion auslöste. Über mehrere Tage verlief das Kolloquium zu Heidegger und Medard Boss, einem Schweizer Psychiater, der Bekanntheit erlangte, da er die Daseinsanalytik Heideggers für die Psychiatrie nutzbar machte.
Kein Konsens der Kontrahenten
Die Vieldeutigkeit des Nationalsozialismusbegriffs sei einer von drei wichtigen Aspekten, warum das Thema „Martin Heidegger und die Frage nach dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus“ beziehungsweise „Martin Heidegger und das Politische“ seit Jahren kontrovers diskutiert werde, führte der Leiter des Meßkircher Heidegger-Archivs Alfred Denker zu Beginn des Lektüreseminars aus. Da es bis heute zwischen den extremen Positionen der Heidegger-Verteidiger und der Heidegger-Kritiker keinen Konsens gebe, liege die Vermutung nahe, dass irgendetwas in der Fragestellung nicht stimme. „Die Positionen der beiden Extreme sind unhaltbar und eigentlich reden sie schon über 50 Jahre aneinander vorbei“, stellte Denker in seinem Vortrag fest, der die Basis für Diskussionen bot.
Vieldeutigkeit des Nationalsozialismusbegriffs
Der langjährige Leiter des Heidegger-Archivs und Herausgeber der Heidegger-Gesamtausgabe verweist auf drei wichtige Gründe, die es erschweren, die konträren Ansichten in einen fruchtbaren Dialog zu bringen. Das seien die Vieldeutigkeit des Nationalsozialismusbegriffs Anfang der 30er Jahre, die fehlende Differenzierung sowie die Gewohnheit, nur das zu zitieren, was die eigene These stützt, und nicht das, was dagegen spricht. Alfred Denker führte zehn Merkmale des Nationalsozialismus auf und beschrieb zu jedem, in welchem Maße diese Heidegger zuzuordnen sind oder inwiefern sie ihn gar nicht berühren. Diese differenzierte Herangehensweise sei nötig, um Heideggers Denken in Bezug auf den Nationalsozialismus im historischen Kontext zu betrachten und die Gewichtung zu bedenken.
„Keine Möglichkeit, zwischen Verbrechern und Nichtverbrechern zu unterscheiden.“
Für problematisch hält es Alfred Denker, wenn in der Diskussion strikt unterschieden werde zwischen Nazi und Antisemit einerseits und kein Nazi und kein Antisemit andererseits. „Da hat man keine Möglichkeit, um zwischen Verbrechern und Nicht-Verbrechern zu unterscheiden“, erläuterte er. Das setze sozusagen Heidegger Verbrechern gleich wie Adolf Eichmann. Die Frage, ob Heidegger die NSDAP und Hitler unterstützte und ob er sich antisemitisch äußerte, müsse man bejahen, doch in welchem Maß ihm dies vorzuwerfen sei, das bedürfe einer genaueren Betrachtung. Er habe beispielsweise niemanden ermordet und als Rektor nie jemanden, nur weil er Jude war, benachteiligt. Jedoch sei unwiderlegbar, dass in Heideggers Briefen und in den „Schwarzen Heften“ antisemitische Aussagen zu finden seien, aber nur auf etwa vier bis fünf von 1.800 publizierten Seiten.
Alfred Denker betonte, dass nicht jeder, der antisemitische Aussagen von sich gab, zugleich ein Antisemit war. „Dann wäre zum Beispiel auch Edmund Husserl Antisemit gewesen“, verwies er auf Heideggers Lehrer, der nie im Verdacht stand, antisemitisch zu sein, sondern als protestantisch getaufter Jude selbst zu den Verfolgten gehörte.
„Besessen von der Seinsfrage“
Abseits der Frage, ob Heidegger als Person antisemitisch oder nazistisch war, sei es entscheidender, ob seine Philosophie antisemitisch oder nazistisch geprägt ist. Dazu führte Alfred Denker fünf Bereiche aus. Der erste Bereich ist der politische: Wie hat Heidegger als Bürger der Weimarer Republik die politische Situation Anfang der 1930er Jahre eingeschätzt. Der zweite gilt dem Bereich der Universität und Heideggers Gedanken zur Universitätsreform. Der dritte Bereich widmet sich der Philosophie und seinen Gedanken zur Erneuerung der Metaphysik, nachdem sein Hauptwerk „Sein und Zeit“ im Jahr 1927 erschienen war. Der vierte ist die politische Philosophie und der fünfte Bereich befasst sich mit dem Rektorat an der Universität Freiburg von April 1933 bis April 1934. „Meiner Meinung nach ist Heideggers Denken weder antisemitisch noch nazistisch“, betonte Alfred Denker. Der Meßkircher Philosoph sei besessen von der Seinsfrage gewesen, nicht von der Judenfrage oder dem Nationalsozialismus. „Sein Lebenswerk ist noch immer ein philosophisches Gebirge, das wir noch zu entdecken haben“, beendete Alfred Denker seinen Vortrag und gab damit genügend Stoff und Texte von Heidegger vor, um eine differenzierte Diskussion zu führen.