Die Corona-Krise zerrt am gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das wird deutlich an Demonstrationen, die von ihren Initiatoren als Hygiene-Demos betitelt werden. Das wird deutlich an zahllosen Fällen, in denen die wirtschaftliche Existenzgrundlage ganzer Familien durch den Lockdown der Wirtschaft gefährdet ist. Und auch an der Wahlwieser Waldorfschule geht das nicht spurlos vorüber.

Öffentliches Zeugnis des Ringens darum, wie die Corona-Krise einzusortieren ist und welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, legt die aktuelle Ausgabe des Schul-Newsletters ab, der unter dem Titel „Aktuell“ erscheint und auch außerhalb der Schule verteilt wird. Eine Rubrik in der jüngsten Ausgabe: Schülerarbeiten unter dem Titel „Freiheit in einer besonderen Zeit“. Einige Texte wurden anonym veröffentlicht, darunter auch einer unter dem Titel „Corona Rap“.

„Grob gesagt, gibt es vier verschiedene Interessensgruppen unter den Eltern, die ein enormes Spannungsfeld aufbauen.“ ...
„Grob gesagt, gibt es vier verschiedene Interessensgruppen unter den Eltern, die ein enormes Spannungsfeld aufbauen.“ Thorsten Heier, Geschäftsführer | Bild: Freißmann, Stephan

Was darin steht, ist streckenweise ziemlich starker Tobak. Zum Beispiel: „Ich mein‘, irgendwas stimmt gerade nicht in diesem Schema, die Wirtschaft muss doch mit der ganzen Sache irgendwo Profit machen – sonst stünd‘ die Welt nicht still.“ Im Text wird darüber spekuliert, ob nicht viele der Corona-Toten zwei Wochen später ohnehin aufgrund von „üblen Vorerkrankungen“ gestorben wären, die Politik verordne eine Massen-Impfplan. Und die Meinungsfreiheit sei ohnehin verschwunden, wozu auch die „öffentlichen Medien“ ihren Teil beitragen würden. Soweit einer der Schülerbeiträge.

Bringt das Einstellungen und Meinungen zum Ausdruck, die an der Waldorfschule eine nennenswerte Rolle spielen? Und weiter gefragt: Zieht eine Waldorfschule möglicherweise Familien an, die Verschwörungstheorien anhängen und einem vermeintlich gleichgeschalteten Nachrichtenmainstream aus Prinzip misstrauen?

Keine Mehrheitsmeinung an der Schule

Nein, sagt Schul-Geschäftsführer Thorsten Heier. Und wie meistens wenn man genauer in die Details blickt, erscheint das Bild plötzlich nicht mehr schwarz-weiß, sondern bekommt zahlreiche Graustufen. Für die Veröffentlichungen im „Aktuell“ zeichne der Arbeitskreis Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich, erklärt Heier auf Nachfrage. Er selbst habe bei dem Schülerbeitrag auch erst einmal innegehalten, doch ihm sei auch klar, dass der Arbeitskreis solche Veröffentlichungen nicht leichtfertig mache. Und er wisse um das harte Ringen um diesen Beitrag im Arbeitskreis.

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Die Positionen, die in dem Schülerbeitrag zur Sprache kommen, seien ausdrücklich keine Positionen der Schule, daran lässt Heier im Gespräch keinen Zweifel. Und das gelte auch für die Waldorfbewegung insgesamt: „Die Haltung ist ganz klar, dass ein Freiheitskampf bei Covid 19 nicht zu führen ist“, sagt Heier. Doch in der Schulgemeinschaft gebe es eben alle möglichen Strömungen und Einstellungen. In gewisser Weise gelte es, diese abzubilden.

In derselben Ausgabe des Waldorfschule-Aktuells gibt es auch deutlich andere Töne. Ein paar Seiten hinter dem anonym bleibenden Schülerbeitrag gibt zum Beispiel Marcel Da Rin, ehemals Stockachs Stadtjugendpfleger, heute Leiter der Kriminalprävention in Singen und Elternteil an der Waldorfschule, Tipps dazu, wie man Verschwörungstheorien entlarvt, und appelliert, auf Solidarität zu setzen. Der Beitrag steht unter dem Titel „Solidarität stärkt Demokratie – Verschwörungstheorien gefährden sie“. Als Quellen werden die Landeszentrale für politische Bildung und das ZDF genannt – Einrichtungen, die der Schülerbeitrag angreift.

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Starkes Spannungsfeld unter den Eltern

Das sind nur zwei Pole des Spannungsfeldes, in dem derzeit der Betrieb an der Waldorfschule laufe, sagt Heier. „Grob gesagt, gibt es vier verschiedene Interessensgruppen unter den Eltern, die ein enormes Spannungsfeld aufbauen.“ Da gebe es diejenigen, die begründete Angst vor dem Virus haben und sich und ihre Kinder geschützt wissen wollen – beispielsweise aufgrund von Vorerkrankungen oder gefährdeten Familienmitgliedern. Es gebe Eltern, die sich ganz streng an alle Vorschriften halten wollen und jede Unstimmigkeit in den Vorgaben des Landes entdecken.

Andere Eltern brächen unter der Last von Berufstätigkeit, Kinderbetreuung und Unterricht zu Hause zusammen und wünschten sich deswegen eine raschere Öffnung der Schulen. Und es gebe eben auch die Freiheitskämpfer, die am liebsten überhaupt keine besonderen Maßnahmen hätten, um die Corona-Pandemie zu bremsen. Da sorge jedes Flatterband, das den Schulhof aufteile, für Diskussionen, sagt Heier. Dazwischen müsse das Leitungsteam der Schule den Betrieb organisieren, in Übereinstimmung mit den Corona-Regeln der Landesregierung. Und man müsse diese Gruppen mitnehmen: „Wenn man Opposition zeigt, kann man Verantwortung übernehmen. Wenn man sie ins Verborgene schiebt, wird sie stärker.“

Geschäftsführer: Weltanschauliche Konflikte gibt es auch anderswo

Dabei habe seine Schule die Corona-Regeln zu 100 Prozent umgesetzt, sagt Heier. Die ganze Schule sei in Sektoren aufgeteilt, damit man im Fall einer Infektion nur einen Teil der Schule schließen müsse – eigentlich ein Affront gegen das Gesamtschulprinzip der Waldorf-Pädagogik, sagt Heier. Dass eine Waldorfschule Verschwörungstheoretiker anziehe, möchte Heier jedenfalls nicht stehen lassen. Es sei vielmehr so, dass systemkritische Eltern, die ihr Kind nicht in die Staatsschule schicken wollen, sich nach einer Alternative umsehen würden. Und die Waldorfschule biete eine solche Alternative. Das sei aber keineswegs „die Waldorfbewegung“.

Die weltanschaulichen Konflikte, die an seiner Schule aufbrechen, gebe es auch an staatlichen Schulen, davon ist Heier überzeugt. Dort könne die Schulleitung sich aber immer noch auf Kultusministerin Susanne Eisenmann als oberste Vorgesetzte verweisen. An einer Waldorfschule, die das Wort „frei“ in ihrem Namen trage, müssten solche Spannungen ausgehandelt werden – unter dem Brennglas der Corona-Krise.