Das Deutschlandlied hören, Westfernsehen schauen, sich kritisch über die Regierung äußern – das reichte, damit die Stasi Hartwig Kluge ins Visier nahm. Als Zeitzeuge berichtete er nun Zwölftklässlern des Nellenburg-Gymnasiums über seine Erfahrungen mit der sozialistischen Diktatur der DDR und seinen Fluchtversuch. Das erwünschte Deutsch- und Sport-Studium durfte er trotz sehr guter Leistungen nicht aufnehmen – sein Schulleiter hatte der Obrigkeit geschrieben, dass Kluge einem der DDR kritisch gegenüberstehenden Elternhaus entstamme.
Der Prager Frühling 1968 war für ihn Anlass, endgültig mit der DDR zu brechen. Ungarische Freunde wollten ihm bei seiner Flucht über Jugoslawien in die Bundesrepublik helfen. Silvester 1968 fuhr er los. Sein Ziel war ein kleines Dorf nahe der jugoslawischen Grenze. Als er sich nachts der Grenze näherte, geriet er in ein Militärmanöver, wurde von einem Soldaten verhaftet und nach Budapest gebracht. In der DDR saß er dann in einem der berüchtigtsten Stasi-Gefängnisse ein. Dort wurde er nur "54-2" genannt: Zelle 54, Pritsche 2. 22 Verhöre gab es, eines dauerte 22 Stunden, erzählte Kluge. Man habe ihn zur Stasi locken wollen, doch er habe niemanden verraten und lieber die Strafe ertragen. Seine Eltern erfuhren erst Wochen später, dass er am Leben, aber gefangen war.
Mit Klopfzeichen habe er sich mit den Zellennachbarn verständigt. Sie spielten auch gegeneinander Schach. Auf Toilettenpapier malten sie mit abgebrannten Streichholzern das Spielfeld auf. Aus Brotkrumen und Mörtelstucken wurden Schachfiguren. Spielzüge übermittelten sie durch Klopfen. "Das war ein Stück Freiheit", sagte Kluge. Die Bundesrepublik kaufte ihn für 40 000 DM frei. In Freiburg studierte er Jura. Geblieben ist ihm bis heute seine "Sehnsucht nach Welt", er ist viel unterwegs. "Die Reiselust hat mich mein ganzes Leben begleitet."
Die Jugendlichen fragten viel. Ja, seine Familie habe auch leiden müssen, der Zusammenhalt habe aber nicht gelitten. Politische Häftlinge hätten dazu beigetragen, das DDR-System zu destabilisieren, indem sie gezeigt haben, dass sie nicht einverstanden waren. Er selbst habe unter dem System gelitten, dass Menschen sich diesem untergeordnet haben, könne er aber nachvollziehen. Nach Einsicht in seine Stasi-Akten verspüre er Wut auf die Verräter, die aus unterschiedlichen Motiven Informellen Stasi-Mitarbeiter waren. Den Mauerfall 1989 habe er als "Euphorie in höchstem Maße" erlebt. Die Schüler ermunterte er, die Welt kennenzulernen und tolerant gegenüber anderen Kulturen und Menschen zu sein. "Genießt die Zeit, seid weltoffen für alles."
Zur Person
Hartwig Kluge, geboren 1947, wuchs in Mücheln auf und machte dort 1966 Abitur. Er studierte Kirchenrecht an der kirchlichen Hochschule in Naumburg. Nach einer Flugblattaktion gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei geriet er endgültig ins Visier der Stasi. Wegen "Republikflucht" wurde er nach seiner Festnahme zu einem Jahr und vier Monaten Haft verurteilt. Kluge lebt in Freiburg/Breisgau. (wig)