Ulrike Blatter

Manchmal ist es, als wären Sophia (9) und Jonas (5) unsichtbar. Aber nicht an diesem sonnigen Morgen im Bewegungsraum der Kita Hoppetosse in Singen. Während Jonas nur zuschaut, beteiligt sich Sophia begeistert an den Kreisspielen, die Theaterpädagogin Katja Bosza anbietet. Beim Treffen der Siba-Geschwistergruppe stehen Kinder wie Sophia und Jonas ganz im Mittelpunkt – aber das ist nicht immer so. Beide müssen oft zurückstecken, da ihr älterer Bruder Julian an einer angeborenen Behinderung leidet. Auch wenn die Eltern Iveta und Matthias Colberg ihr Bestes geben, um allen Kindern gerecht zu werden, müssen Jungen und Mädchen, deren Geschwister an einer Behinderung oder einer chronischen Erkrankung leiden, oft hinten an stehen. Wurden sie eins als „Schattenkinder“ bezeichnet, suchen die Initiatorinnen der neuen Selbsthifegruppe Siba, Christa Rummel und Gabriele Weschenfelder, nach einem Begriff, der nicht aus der Zeit des Nationalsozialismus stammt.

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„Siba kommt von sichtbar“, erklärt Christa Rummel, Leiterin der Kita Hoppetosse. Gabriele Weschenfelder, Leiterin des Familienhauses Taka-Tuka-Land, ergänzt: „Deshalb ist unser Logo auch ein Maulwurf, der vergnügt ins Helle blinzelt.“ Die Gruppe bietet wöchentliche Treffen für Vor- und Grundschulkinder, sowie eine monatliche Selbsthilfegruppe für Eltern, wobei die Kinder professionell betreut werden. Hinzu kommen Freizeitaktivitäten, Ausflüge, Grillnachmittage und ein Theaterworkshop, der eigentlich noch ein großes Geheimnis ist.

„Siba kommt von sichtbar. Deshalb ist unser Logo auch ein Maulwurf, der vergnügt ins Helle blinzelt“, erklärt Gabriele ...
„Siba kommt von sichtbar. Deshalb ist unser Logo auch ein Maulwurf, der vergnügt ins Helle blinzelt“, erklärt Gabriele Weschenfelder, Leiterin des Familienhauses Taka-Tuka-Land. Trost für die Betroffenen gehört auch zum Konzept. | Bild: Ulrike Blatter

Augenzwinkernd verrät Theaterpädagogin Katja Bosza aber schon ein paar Details: „Wir arbeiten nicht nach Drehbuch, sondern geben den Kindern Spiel-Räume im Sinne des Wortes.“ Niemand braucht Angst vor einem Texthänger zu haben, denn die Choreographie wird gemeinsam entwickelt und bietet genug Raum für spontane Improvisationen. Die Proben beginnen im Frühsommer. Während der Museumsnacht am 17. September stellen die Kinder dann in der Gems ihr Projekt vor. „Wir haben noch Platz in der Theatergruppe und laden Geschwister von kranken oder behinderten Kindern herzlich ein, mitzumachen“, erklärt Katja Bosza und Christa Rummel ergänzt: „Aktuell nehmen sieben Familien unsere Gruppenangebote wahr, aber wir möchten gern im Hegau bekannter werden und freuen uns über Zuwachs.“ Die Initiatorinnen wissen, dass Eltern behinderter Kinder sich oft schwertun, weitere Termine im Kalender unterzubringen. Manchen ist es auch peinlich, dass immer wieder etwas dazwischenkommt. Auch Matthias Colberg kann davon ein Lied singen. „Schon oft hatte ich das Gefühl, wir haben in der Notaufnahme des Krankenhauses ein Stammkunden-Abo“, sagt er und andere Eltern, die rund um den Tisch bei Kaffee und Brezeln zusammensitzen, nicken. Der Alltag mit Kindern ähnelt sowieso schon einem Hürdenlauf. Und dann erst mit einem behinderten Kind, bei dem Arzt- und Therapietermine koordiniert werden müssen. Die Selbsthilfegruppe soll nicht zusätzlicher Stress sein, sondern ein Freiraum – das gilt für die Geschwisterkinder in besonderem Maße, die erkennen, dass sie mit ihrer Situation nicht alleine sind.

In Aktion: Theaterpädagogin Katja Bozsa Foto Ulrike Blatter
In Aktion: Theaterpädagogin Katja Bozsa Foto Ulrike Blatter | Bild: Ulrike Blatter

Aber nicht allen Kindern sieht man ihre Erkrankung an. Utes Sohn leidet beispielsweise an einer unsichtbaren Behinderung aus dem autistischen Spektrum. „Er konnte zwar schon mit zwölf Monaten vollständige Sätze sprechen, aber trotzdem lebte er komplett in seiner eigenen Welt“, berichtet die Mutter, die als Schutz für ihren Sohn den Nachnamen nicht in der Zeitung wissen möchte. Drei mühsame Jahre habe es gedauert, bis die Diagnose gestellt wurde. Zusätzlich leidet der zierliche Junge noch an motorischen Defiziten, die es ihm schwer machen, seinen Bewegungsablauf zu koordinieren. Aber die Auffälligkeiten im Sozialverhalten stehen im Vordergrund. „Immer wieder wird uns vorgeworfen, dass unser Sohn schlecht erzogen sei“, sagt die Mutter. „Dabei ist es einfach nur die Reizüberflutung, die ihm zu schaffen macht.“ Inzwischen sei der Junge in einer Regelklasse der Grundschule eingeschult, habe eine Schulbegleitung und keiner rege sich mehr darüber auf, wenn er sich die Ohren zuhalte oder sich in einem Winkel verkrieche, um zur Ruhe zu kommen. Auch in diesem Gespräch zeigt sich, wie sehr das kranke Kind im Mittelpunkt des Interesses steht. Dabei geht es doch eigentlich um den jüngeren Bruder. Er wurde geboren, als die Diagnose Autismus noch nicht im Raum stand. Die beiden sind nur ein Jahr auseinander. „Bei einem so geringen Altersunterschied kommt es sowieso schnell einmal zu Rivalitäten unter Geschwistern“, weiß die Mutter. „Oft muss ich mit dem Großen zum Arzt oder zu Therapien. Ich versuche dann in der Wartezeit mit dem jüngeren Bruder etwas Schönes zu unternehmen. Aber Eisessen interessiert ihn dann nicht. Er ist eifersüchtig und beschwert sich, dass er keine Therapie bekommt und nicht zum Doktor darf.“ Sie lächelt: „Aber trotz allem sind die beiden unzertrennlich. Der jüngere Bruder ist unglaublich warmherzig, offen und angstfrei. Manchmal habe ich den Eindruck, die beiden ergänzen sich wunderbar: Der Jüngere zeigt seinem Bruder, wie man auf andere Menschen zugeht.“ Auch Ann-Marie Weschenfelder bestätigt positive Auswirkungen auf das Sozialverhalten der Geschwisterkinder: „Die Kinder übernehmen früh Verantwortung und viele Pflichten.“

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Ann-Marie Weschenfelder ist angehende Erzieherin und seit acht Jahren Babysitterin bei Julian, Sophia, und Jonas. Deshalb sieht sie auch die negativen Auswirkungen, die ebenfalls von den Eltern bestätigt werden: „So schön es auch ist, dass Sophia sehr reif und vernünftig ist – sie muss doch auch Kind sein dürfen. Sie braucht Freiräume und Zeit, wo einmal nur sie im Mittelpunkt steht. Sonst bleibt die unbeschwerte Kindheit total auf der Strecke.“ Genau diese Freiräume schafft die Siba-Gruppe in kreativer Weise. Alle Fachkräfte dort sind pädagogisch geschult und freuen sich darauf, viele Geschwisterkinder in die Sichtbarkeit zu begleiten.

Zu Träger, Personal, Belastung und Unterstützungsmöglichkeiten

  • Träger der Siba-Gruppe ist der Awo-Kreisverband Konstanz in Kooperationmit den ambulanten Dienste der Zieglerschen in Engen und der Lebenshilfe Singen-Hegau. Angeboten werden Kindergruppen von 4-6 Jahren und von 7–11 Jahren. Die Treffen finden außerhalb der Schulferien wöchentlich statt, der Elterntreff einmal monatlich. Weitere Informationen bei Christa Rummel, Telefon (0151)67165611, per E-Mail an: geschwistergruppe@awo-konstanz.de
  • Die Ausbildung ist ähnlich wie in der Pflege generalisiert. Sie kann in Voll- oder Teilzeit absolviert werden und dauert – je nach Vorbildung – zwei bis vier Jahre. Vorausgesetzt wird ein mittlerer Bildungsabschluss. Auch ohne Abitur ist – je nach Qualifikation und Berufserfahrung – ein Fachhochschulstudium möglich. Das Einsatzgebiet ist breit gefächert: von Kindergarten oder Schule bis zu Beratungsstellen oder auch Wohnheimen für Menschen mit Behinderungen.
  • Inklusion ist laut Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN) ein Grundrecht für jeden Menschen. Die Umsetzung der Inklusion im frühpädagogischen Bereich und in den Schulen steht aber immer noch vor große Herausforderungen. Barrierefreie Zugänge zählen zu den kleineren Hürden. Es fehlt an besseren Räumlichkeiten, individueller Schulbegleitung und professioneller Vernetzung, um das Bildungssystem für alle zu öffnen.
  • Autismus-Spektrum-Störungen brechen oft schon vor dem dritten Lebensjahr aus. Hauptsymptomen sind eine gestörte soziale Interaktion, Kommunikationsbeeinträchtigungen, stereotype Verhaltensweisen und oft eine Einengung der Interessen, aber auch ganz besondere Insel-Begabungen. (blatter)

Spendenkonto: AWO Kreisverband Konstanz, Sparkasse Singen-Radolfzell DE 08692500350003046455 SOLADE S1SNG

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