Hannes Schultheiss

Geschichtsträchtige Orte sind nicht selten unauffällig. Ist das Erinnern an sie nicht erwünscht, etwa weil sie symbolisch für einen politischen Gegner stehen, laufen sie Gefahr, aus der Historie getilgt zu werden. Sie werden in Schutt und Asche gelegt oder aber auf subtilere Weise manipuliert: etwa durch die „Damnatio memoriae“, einer aus der Antike überlieferten Form der Geschichtsklitterung, welche darauf hinausläuft, die Namen und Zeichen der zur Vergessenheit Verdammten von Gebäuden und Denkmälern ebenso zu entfernen wie aus den Geschichtsbüchern.

1959 kam es in Singen zu einer „Damnatio memoriae“ – mit der Konsequenz, dass die fast schon auffällig ruhige, in der Singener Nordstadt gelegene Harsenstraße den meisten, wenn überhaupt, lediglich wegen der dortigen Druckerei ein Begriff ist.

Die Harsenstraße hieß einmal Max-Maddalena-Straße

Der für sein künstlerisches Schaffen bundesweit bekannte Rechtanwalt und Autor Gerhard Zahner (1957) ist in der Harsenstraße groß geworden, welche während seinen ersten beiden Lebensjahre noch einen anderen Namen trug.

Er will über diesen alten, eng mit ehemaligen Bewohnern der Straße verknüpften und doch der Verdammnis anheimgefallenen Straßennamen aufklären – mit seinem jüngsten Theaterstück „Max Maddalena 36“, welches nun an zwei Abenden auf der abgesperrten Tempo-30-Zone nahe dem Haus Nr. 36 der verschlafenen Harsenstraße aufgeführt wurde. Für den Herbst sind zudem zwei Aufführungen in der Gems geplant.

wuchs selbst in der Harsenstraße auf: der Singener Rechtsanwalt und Autor Gerd Zahner.
wuchs selbst in der Harsenstraße auf: der Singener Rechtsanwalt und Autor Gerd Zahner. | Bild: Fricker, Ulrich

Unter den Augen der an den Fenstern wie auf den Balkonen versammelten Anwohner fanden sich etwa 50 Besucher ein; vor ihnen eine Schaukel und die Schauspielerin Lisa Maria Funk als „Himmel-und-Hölle“ spielendes Kind. Anna Hertz lässt die Beine von einem Stromkasten baumeln, kosmisch-verhallte Gitarrensequenzen von Reinhard Stehles untermalen die Szenerie.

Ein Ritt durch lokale und deutsche Geschichte

Es beginnt ein Ritt durch die Geschichte der Straße und ihrer Bewohner. In einer in die 20er Jahre einzuordnenden Gerichtsszene erfährt der Zuschauer aus dem Mund eines des Mordes an Major Scherer beschuldigten Arbeiters (gespielt von Leander Kämpf), dass während einer Demonstration der linken Arbeiterschaft (die Schauspielerinnen skandierten zuvor mehrfach „Rathenau! Rathenau!“) aus Scherers Villa heraus das Feuer auf den Protestzug eröffnet wurde. Man habe die Villa gestürmt, dabei sei der Major erschossen worden, allerdings nicht von ihm selbst er selbst sei nicht anwesend gewesen, beteuert Maddalena.

Es folgt ein Zeitsprung von 90 Jahren: Die Stolpersteinlegung für die Familie Haarlander im Jahr 2010 vor ihrem ehemaligen Haus (Nr. 36) in der Harsenstraße wird von einem schaukelnden Kind beobachtet. Die Steine passen nicht recht in die für sie vorgesehenen Einfassungen, was die Stolpersteinlegerin (Lisa Maria Funk) nicht davon abhält, mit Gewalt auf diese einzuschlagen. „Können Schuhe das lesen?“, fragt der Junge, welcher wie die anderen Kinder für das personifizierte Gedächtnis des Straße steht und die Haltung unverblümten Fragens verkörpert.

Eine Zeit voller politischer Gewalt

Eine Handreichung an das Publikum hielt biografische Angaben über die wichtigsten Figuren bereit. So wurde auch für diejenigen, welche sich nicht im Vorfeld mit der Thematik auseinandergesetzt hatten, ersichtlich, dass es sich bei den Harlanders um eine Familie aus dem Singener KPD-Umfeld handelte, welche ihre Wohnung ab 1933 als Anlaufstelle für politisch Verfolgte bereitstellte. Über Kontakte zu Schweizer Genossen ermöglichten sie so Dutzenden die Flucht, ehe das Netzwerk 1936 aufflog.

Über Max Maddalena erfährt man, dass er ein aus Riedheim stammender, einflussreicher Kommunist (von 1928-1933 saß er für die KPD im Reichstag) und Widerstandkämpfer war, welcher 1937 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurde und 1943 in der Haft an den unmenschlichen Haftbedingungen verstarb.

Schüsse auf Singener Demonstranten

Er rief als Reaktion auf das Attentat auf den deutsch-jüdischen Reichsaußenminister Walter Rathenau zu Protesten innerhalb der linken Arbeiterbewegung in Singen auf, welche der Schießerei vor der Major-Scherer-Villa vorausgingen.

Als Geschäftsführer des Deutschen Metallarbeiterverbandes im Bezirk Singen bereitete Maddalena zudem der wachsende Rechtsextremismus innerhalb der „Aluminium“ Sorge, geschürt durch den ehemaligen Freikorps-Führer Hans Paulssen, einem Kameraden des Majors, welcher dort an betrieblichem Einfluss gewann und seine alten Kampfgenossen in das Werk lenkte.

Die zentrale „Stadtrat-Szene“ wird von Hertz und Kämpf mit bitterem Humor gespielt: So wurde die Harsenstraße nach dem Krieg von den Franzosen in „Max-Maddalena-Straße“ umbenannt – schließlich war der Widerstandskämpfer hier zeitweise wohnhaft, ebenso wie andere Gegner des Nationalsozialismus aus dem Arbeitermilieu, allen voran die Harlanders.

1959, zu einer Hochphase des Kalten Krieges, stellte der damalige Stadtrat Schüttler jedoch einen Antrag zur Rückbenennung, indem er Maddalena schablonenhaft als verbrecherischen Kommunisten im Geiste des Stalinismus diffamierte. Insbesondere Stadtratsmitgliedern mit brauner Vergangenheit war das recht, sodass der Antrag genehmigt wurde und die Straße wieder ihren vorherigen Namen erhielt.

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Zahners Stück, das die Schauspieler übrigens selbst inszeniert haben, offenbart die vielfachen Verschränkungen zwischen dem Kleinen (die Geschichte der Straße, zweifelhafte Stadtratssitzungen, die Harlanders als lokale Fluchthelfer) und dem Großen (die Ermordung Rathenaus, der Ost-West-Konflikt, Haftbedingungen der Widerstandkämpfer). Es stellt zudem zu Recht die Frage, ob wenig sichtbare Stolpersteine ausreichen, um der Geschichte der heute so ruhigen Harsenstraße und des dortigen Widerstands angemessen zu gedenken.

Die im Stück mitschwingende Forderung, die Straße wieder in „Max-Maddalena-Straße“ umzubenennen, ist durchaus ein Vorschlag, über den sich nachzudenken lohnt. Angebracht wäre in jedem Fall die Installation einer gut sichtbaren Gedenktafel, auf dass die Harsenstraße in Zukunft nicht mehr nur mit der dortigen Druckerei in Verbindung gebracht wird.