Alexander dem Großen sieht man nichts an. 62 Jahre, drahtig, kein Gramm zu viel. Wer‘s nicht besser weiß, schätzt ihn auf 50 – höchstens! Und der erste Eindruck hält der genaueren Prüfung stand. Das Rätsel um Alter und Gebrechen verliert sich in den wachen Augen, der gepflegten Erscheinung, dem gelegentlich aufblitzenden Lachen. Und aufmerksam ist er.

Alexander studiert sein Umfeld, registriert haargenau das Verhalten seiner Leidensgenossen. Als sein erst gestern eingewiesener Tischnachbar den Eintrag für die Wahl des Mittagsmenüs vergisst, hebt er leicht den Kopf, deutet mit flüchtiger Geste auf das Menü-Blatt und das Versäumnis hin.

Das ist bemerkenswert, auch weil kaum geredet wird im Speisesaal der Rheintalklinik in Bad Krozingen. Wegen Corona ist das Haus weit entfernt von einer Vollbelegung und wo sonst reichlich Platz für sechs Personen wäre, sitzen jetzt gerade mal zwei Reha-Patienten am Tisch – jeweils am Kopfende, was einen Abstand von knapp drei Metern garantiert. Es ist keine gute Voraussetzung für Gespräche und so horchen die Menschen aufs Geschirr, auf dem Messer, Gabel, Löffel die Rede führen. Distanziert brütet jeder für sich, Alexander aber ist auch ohne Worte achtsam.

Hier läuft etwas schief

Möglich, dass genau dies den Mann frisch hält. Vielleicht aber hat er in den zwei, drei Wochen seiner Reha auch nur die Bedeutung der Achtsamkeit als eine der Reha-Lektionen gelernt. Nicht dass die Therapeuten eigens darauf hinweisen müssten. Das besorgt der Schmerz von ganz allein und den meisten hier fährt er in die Knochen. Wirbel, Gelenke, die Hüfte oder Schulter, Brüche und Vorfälle – der Gott des Schmerzes kennt viele Apostel.

Es knackt und knirscht und jeder hat irgendwie sein Kreuz zu tragen, doch beim Dehnen, Strecken und Biegen schwingt sich das Hüftkreisen ums eigene Leid allmählich zur Erkenntnis auf, dass hier kollektiv etwas schief läuft.

Die Reha jedenfalls ist ein idealer Nährboden fürs Mitleid, denn das Gefühl des Triumphes über die deutlich höhere Ungelenkigkeit des Nachbarn hält nicht lange vor. Jeder kommt hier irgendwann an seine Grenzen und es ist ein Glück, dass man die eigene Unbeweglichkeit nicht sehen kann. Sie muss zum Lachen aussehen und lässt sich nur mit Ironie ertragen.

Ironie als Mittel der Therapie

Just ihr hat Alexander der Große seinen Spitznamen zu verdanken. Zu Beginn der Gymnastikeinheit befragt die Therapeutin die Patienten nach ihren heutigen Übungswünschen, doch die meisten sind neu dabei und also wendet sie sich direkt an den ihr schon bekannten Alexander. Er misst 1,71 Meter und sie nimmt ihn mit der Anrede als Alexander der Große hoch. Das genügt für ein Schmunzeln auf den verspannten Gesichtern.

Die Ironie ist unschwer als ein bewusst eingesetztes Mittel der Therapie zu erkennen, die das steife Dutzend prompt locker macht. Neben der Achtsamkeit für sich und andere ist Lockerheit somit eine weitere Lektion der Reha. Gelassenheit, Ruhe, die Entdeckung von Langsamkeit und Sanftheit sind die Heilmittel einer rasend gewordenen Gesellschaft. Sie zwingt ihre Mitglieder in wachsender Zahl auf die Matte.

Leistungsvermögen sinkt ab 20 Jahre

Und diese hölzerne Truppe soll künftig bis 70 arbeiten? Thomas Wolburg fasst seine Antwort dazu in eine Grafik. Er präsentiert sie in einer Verschnaufpause an den Gyrotonic-Geräten der Rheintalklinik, die mehr als jede Gymnastik spürbare Erfahrungen in den Tiefen von Muskeln, Sehnen und Bändern bis in die hinterste Faszie ermöglichen. Die wenigen Striche, die der Therapeut auf ein Blatt Papier kritzelt, beruhen dabei auf keinerlei empirischen oder wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern die Quelle sind einzig die Lebens- und Berufserfahrungen des Therapeuten.

Bild 1: Rente mit 70: Wenn diese Idee eine Zukunft haben soll, dann muss sich unsere Arbeitswelt grundlegend verändern
Bild: Orlowski, Birgit

Im Diagramm des Thomas Wolburg steigt das Leistungsvermögen eines Menschen bis zum Alter von 20 Jahren kontinuierlich zu einem Höchstpunkt an, danach wird es bis zur durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren nach und nach abgebaut. Die Leistungserwartung in der Wirtschaft dagegen werde auf einem konstanten Niveau gehalten – und statistisch öffne sich so ungefähr bei 60 Jahren ein Delta, bei dem das individuelle Leistungsvermögen unter den Erwartungshorizont der Arbeitswelt sinke (siehe Grafik). Spätestens dann greifen die Geschäftsmodelle der Reha-Kliniken.

Ohne Neustrukturierung geht es nicht

Thomas Wolburg ist sich der groben Vereinfachung seines Schaubilds bewusst. Berufe und Tätigkeiten lassen sich ebenso wenig über einen Kamm scheren wie die Menschen und ihre jeweilige gesundheitliche Verfassung. Ein Profifußballer beispielsweise gerät womöglich mit 30 Jahren an seine Grenzen, in anderen Berufen erschließt sich das volle Leistungspotenzial hingegen erst mit der Erfahrung und einem entsprechenden Alter.

Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der Debatte um die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bis 70 erfüllt die plakative Darstellung der Kollision von Leistungsvermögen und Lebensalter jedoch ihren Zweck. Nimmt man die Idee für voll, wird es ohne eine Neustrukturierung der Wirtschaft nicht gehen. Denn wer mit 15 ins Berufsleben einsteigt, hat künftig einen Marathon von 55 Jahren vor sich, auch bei Studium samt Promotion stünden 40 Jahre plus X auf dem zu leistenden Arbeitszeit-Budget.

Alles ist eine Frage der Kosten

Unter den vorherrschenden Umständen wird das nicht funktionieren, wobei Alexander der Große ein gutes Beispiel abgibt. Seine 44-jährige Berufstätigkeit und langjährige Beschäftigung in seinem derzeitigen Unternehmen können als Indizien für den musterhaften Fall eines Mitarbeiters genommen werden, seine Disziplin und sein Gesundheitsbewusstsein aber hielten der einseitigen Belastung bei der Bedienung einer Maschine dennoch nicht stand. Der Mann vermutet, dass die Schädigung seiner rechten Schulter mit schmerzhaften Ausstrahlungen in den Halswirbelbereich darauf zurückzuführen ist und begründet dies mit adäquaten Beschwerden einer Kollegin, die an der gleichen Maschine die einseitige Gegenbewegung in gegensätzlicher Richtung ausübt.

In einer Pause zwischen lateraler Rumpfbeuge und einbeinigem Balance-Akt auf einer Schaumstoffunterlage erzählt Alexander, dass der Vorschlag aus der Belegschaft, die Arbeitsabläufe maschinell zu ersetzen und die Mitarbeiter für andere Aufgaben zu qualifizieren, bislang kein Gehör fand. Er zuckt mit der lädierten Schulter: Es sei eben alles eine Frage der Kosten und solange die Ausfälle durch neue Mitarbeiter bei relativ niedrigen Löhnen ersetzt werden könnten, rechnet er nicht mit einer Veränderung.

Also kalkuliert auch er. Angesichts seiner Berufsjahre ist es nicht mehr weit bis zum Rentenanspruch. Vielleicht hört er nächstes Jahr auf, eventuell auch erst mit 64. Alexander wird sich das demnächst genau ausrechnen lassen, aber selbst wenn er bis 65 durchhält – nach dem Modell eines künftigen Arbeitslebens bis 70 Jahre wäre er damit immer noch eine halbe Dekade unter dem Soll.

Flexibilität könnte die Lösung sein

Das Beispiel gibt Einblick in die Dimension des Dilemmas und versorgt die Reha-Kliniken mit einem nicht nachlassenden Strom von Patienten. Ein Therapeut wie Thomas Wolburg weiß natürlich, dass sich längst nicht nur die Wirtschaft mit ihren Ansprüchen verhebt, auch im Privatleben werden Kisten falsch gehoben, das Herz gestresst und die Leber belastet. Wenn es aber überhaupt eine Chance für die Verlängerung der Lebensarbeitszeit geben soll, wird nach seiner Einschätzung das Heil in einer höheren Flexibilität liegen müssen.

Dazu zählt der Ausbau der Teilzeitbeschäftigung insbesondere im höheren Alter, die Möglichkeit zum Berufswechsel auch jenseits von 50 Jahren, die verstärkte Berücksichtigung von Erfahrungswerten in den Unternehmen, vor allem aber ein geläutertes Bewusstsein über die Bedeutung der Gesundheitsvorsorge. Das Modell der Rehabilitation ist damit seinerseits reformbedürftig und führt weg von einer Strategie, bei der die Hilfe erst nach dem Vorfall einsetzt.

Wertschätzung für alle Tätigkeiten

Vor allem aber lässt sich die durchschnittliche Lebensarbeitszeit nur mit einer neuen Bestimmung von Arbeit erhöhen. Wo die berufliche Aufgabe jenseits der ökonomischen Notwendigkeit als sinnhaft verstanden wird, beschränkt sich das Miteinander in den Unternehmen zwangsläufig nicht auf die bloße Solidarität einer Beutegemeinschaft, was wiederum Perspektiven für die sogenannten freien Zeiten eröffnet. Der Kabarettist Torsten Sträter brachte das jüngst treffend auf den Punkt. Er würde, so sagte er, sich auch gerne im Urlaub erholen – er wisse nur nicht wovon.

Der Kleinkünstler freilich hat gut reden. Nicht jeder Beruf, nicht jede Arbeit lässt sich als Privileg verstehen, bei dem man außerdem noch gutes Geld verdient. Dennoch stimmt die Haltung und bei gebotener Wertschätzung können selbst bisher als niedrig eingestufte Tätigkeiten beachtlich gewinnen. Das Personal an der Kasse, der Paketzusteller, die Reinigungskraft im Pflegeheim – über den Umweg von Corona wird deutlich, wie Arbeit sich als gesamtgesellschaftlicher Faktor neu definieren lässt.

Hund und Katz‘ machen es richtig

Gelingt das nicht, bleiben immer noch die Therapieansätze der gängigen Reha: Achtsamkeit für sich und andere sowie eine ironisch eingefärbte Lockerheit im Umgang mit den Widrigkeiten des Lebens. Thomas Wolburg findet dafür ein schönes Bild. Er zweifle, so führt er während der frühmorgendlichen Gymnastik gegenüber seinen stocksteifen Zuhörern aus, ganz generell an der Intelligenz des Menschen.

Denn was machen Hund und Katz‘ nach dem Aufwachen? Sie strecken und dehnen sich und erst dann begeben sie sich in Richtung des Typen, der ihnen täglich das Fressen hinstellt. Für den Therapeuten ist das der Beleg dafür, dass die Abläufe der Gesundheitsvorsorge bei den Vierbeinern intakt sind, der Mensch hingegen sei der einzige Kaltstarter unter den Säugetieren. Strecken und dehnen genügen nach Ansicht des Thomas Wolburg übrigens völlig und auch hier gilt ihm das tierische Verhalten als Vorbild: „So eine Katze macht vieles, aber sie geht definitiv nicht ins Sportstudio.“

Warum es bei der Reaktion auf die demografische Entwicklung um die Neubestimmung von Arbeit geht

Thomas Conrady ist Geschäftsführer der COWA Service Gebäudedienste GmbH mit Sitz in Gottmadingen, die rund 3400 Mitarbeiter beschäftigt. Er sieht die Diskussion um die Verlängerung der Lebensarbeitszeit im Kontext einer Neubestimmung von Arbeit

Herr Conrady, das Geschäftsfeld der Gebäudereinigung bringt nicht gerade die besten Voraussetzungen für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit mit, oder?

Das würde ich so nicht sagen und eine Zahl spricht dagegen: Bei uns sind 170 Beschäftigte älter als 65 Jahre...

...und sie werden vor allem wegen des Geldes arbeiten.

Das tun wir alle. Aber das Geld ist nicht alles, es geht zugleich um Sinnhaftigkeit. Arbeit ist soziale Einbindung, wir Menschen wollen immer auch Wertschätzung erleben – und das wird insbesondere durch Corona deutlich. Die Anerkennung erfolgt natürlich über den Lohn, aber eine ganz wichtige Rolle spielt die Motivation.

Motivation zum Putzen und Saubermachen? Das soll funktionieren?

Ja, das geht – wobei auch hier Corona einiges zurechtrückt. Die gesellschaftliche Bedeutung von Hygiene erfährt dadurch eine neue Wertschätzung. Die Unternehmen verfügen aber auch über andere Möglichkeiten, um der Arbeit einen Sinn zu geben. Es geht darum, den Mitarbeitern Freiräume zu eröffnen und Verantwortung zu geben.

Wie sieht das bei der COWA konkret aus?

Zunächst einmal wird längst nicht mehr nur nass aufgewischt. Das fängt ja schon bei den Reinigungsverfahren an, die Bedienung des Geräteparks beispielsweise setzt einiges an Kenntnissen voraus. Wenn die Mitarbeiter sich dann noch eigenverantwortlich etwa für ein Industriegebäude kümmern können, erfährt die Arbeit eine Sinnhaftigkeit übers reine Geldverdienen hinaus.

Aber das reicht ja wohl kaum für eine Attraktivität der Arbeit bis 70...

...wobei ich gleich mal widersprechen möchte. Es muss nicht zwingend das Rentenalter nach hinten verschoben werden, denn entscheidend ist die Produktivität. Da ist organisatorisch noch einiges an Luft – auch bei uns – und es wird mit Sicherheit zu Veränderungen in den Arbeitsweisen kommen. Die Digitalisierung etwa bietet Chancen. Wieso zum Beispiel sollen beim Gebäudeservice die Arbeitsvorgänge nicht automatisch mit einer Abnahme und mit einer der Rechnungsstellung kombiniert werden?

Die Diskussion um eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist also überflüssig?

Nein, aber die Lösung des demografischen Problems wird nicht einspurig erreicht. Wichtig ist ein Mix an Maßnahmen und dass die Menschen länger arbeiten, kann eine Option sein. Dabei geht es nicht zuletzt um die Nutzung von Qualifikationen und Erfahrungen älterer Mitarbeiter. Viele Unternehmen stehen vor der Herausforderung, dass ältere Beschäftigte sich die psychischen Belastungen etwa durch den Zeitdruck nicht mehr antun wollen. Bei der COWA versuchen wir das so zu managen, dass die Kollegen Projekte betreuen oder Schulungsaufgaben für jüngere Mitarbeiter übernehmen.

Teilzeit ist auch eine Option?

Ja, klar. Wir werden bei der Arbeitsorganisation aber auch über Migration reden müssen. Wie gesagt, da gibt es keinen Königsweg.

Und wie sieht‘s mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagement mit Anreizen zum Erhalt der Gesundheit der Mitarbeiter aus?

Da tue ich mich ehrlich gesagt schwer. Meinetwegen kann es ja durchaus risikoverpreiste Regelungen von Krankenkassen geben, aber ich bin der Meinung, dass die Unternehmen nicht zu sehr in die individuelle Lebensführung der Mitarbeiter eingreifen sollten. Die fürsorgliche Rolle in den Betrieben sehe ich eher bei der Wertschätzung...

...eine Frage der Unternehmenskultur?

Genau. Ein Schulterklopfen ist im Zweifel mehr Wert als 1000 Euro.

Fragen: Torsten Lucht