Letzte Woche stand ich mit meinem Vater unter einem blühenden Mandelbaum und wir beobachteten eine Hummel, die frühlingstrunken in den rosafarbenen Blütenschaum eintauchte. Mein Vater lächelte – das erste Mal seit vielen Tagen. Und mir kamen die Tränen. Seit vier Wochen hatte er nämlich auf unseren Spaziergängen kein Auge gehabt für Narzissen und Krokusse, der blaue Himmel interessierte ihn genauso wenig, wie die wärmenden Sonnenstrahlen. Denn innerlich fror er ständig und wie ein Mehltau legte sich der Schatten des Krieges über diese lichtdurchfluteten Tage im März 2022.
Wenn wir spazieren gehen, kennt er die Straßennamen an seinem neuen Wohnort und weiß, wann man rechts oder links abbiegen muss. Da macht dem ehemaligen Paketzusteller so schnell niemand was vor. Aber seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine lief die Angst immer mit. „Du musst genau hinschauen“, ermahnte er mich. „Dann siehst du, dass es gestern im Hochhaus nebenan gebrannt hat.“ Ich schaue genau hin, sehe nichts Auffälliges, erfahre aber, dass das Gebäude erst gestern unter Beschuss lag. Hinter dem Bahndamm liegt eine französische Einheit und in den Wald darf man nicht, denn da sind die Russen. Ich spüre seine Sorge, dass ich aus Naivität oder Unachtsamkeit in Gefahr geraten könne. Davor will er mich schützen, denn ich habe keine Ahnung, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist und die heile Fassade von jetzt auf gleich zusammenbrechen kann.

Nein, es ist kein Zufall, dass ich mich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit dem Thema Kriegstrauma beschäftige. Zu oft hat mich das Grauen schon eingeholt. Meine Mutter rannte auf dem Schulweg mit Bomberverbänden um die Wette, sah Unsägliches, wurde verschüttet und musste flüchten. Sie erlebte, wie ihre Mutter ausgebeutet wurde, damit sie ein Dach über dem Kopf hatte. Ausgebeutet im Haushalt und auf dem Feld. Vermutlich auch im Bett. So etwas nannte man damals beschönigend „Onkelehe“ und spätestens ab 1950 sprach gar niemand mehr gerne darüber.
Und jetzt passiert das alles wieder – gefühlt direkt vor unserer Haustür. Der Kolumnist und Autor Maxim Biller hat verkündet, er werde nie wieder ein Buch schreiben. Es ändere ja doch nichts; kein Roman habe je einen Krieg verhindert. Das wäre auch ein bisschen viel verlangt. Ich schreibe weiter, denn die Literatur kann denen Worte geben, die durch Gewalt und Trauma zum Verstummen gebracht wurden. Was aus meinen Texten wird, entscheiden meine LeserInnen. Aber zumindest habe ich genau zugehört. Und auch deshalb kann mein Vater wieder lächeln.