Katharina Wagner hat den Humor nicht verloren, auch wenn ihr eigentlich nicht nach Lachen zumute ist. Die 75-Jährige wohnt seit den 90er-Jahren in der Hohenkrähenstraße in Singen und hat stets einen flotten Spruch auf den Lippen. „Bei ihr ist alles kaputt, doch der Mund geht noch“, sagt Ehemann Josef Wagner schlagfertig. Nach zwei Bandscheibenvorfällen und 15 Operationen mag der Körper seiner Frau nicht mehr so. Deshalb werden die wenigen Stufen zwischen Haustür und der Wohnung im Obergeschoss zur großen Belastung. Auf den Handlauf an der Wand, der ihr das Leben erleichtern würde, muss sie warten. Denn die darüber entscheidenden Eigentümer, zu denen auch das Ehepaar Wagner selbst zählt, treffen sich nur einmal im Jahr.

Ohne ihren Mann verlässt sie nicht das Haus
Beim Weg hinauf kann sich Katharina Wagner mit der rechten Hand am Geländer hochziehen und links auf einen Stock stützen, doch abwärts wird es schwieriger. Denn hier greift die stärkere rechte Hand ins Leere, es gibt keinen Handlauf und damit keine helfende Stütze. Inzwischen überlegt sich die 75-Jährige daher genau, wann sie wirklich vor die Tür muss. Ohne die Hilfe ihres Mannes sei ein Spaziergang nicht denkbar, seit Monaten übernehme er schon alle Einkäufe. Nur wenige Termine sind fix, an denen sie das Haus verlässt: Sie gehe seit 21 Jahren zur Krankengymnastik und regelmäßig schwimmen, um ihren Körper beweglich zu halten.
16 Parteien können – und müssen – mitreden
In einem Eigenheim würden Betroffene einfach einen Handwerker bestellen, schildert Siegfried Schmid. Er ist Vorsitzender des Instituts für Treppensicherheit mit Sitz in Gottmadingen und an diesem Tag mit Geschäftsführer Werner Thomaier vor Ort. Bekannte vermittelten den Kontakt, das Institut wolle Wagners helfen. In der Regel übernehme die Pflegekasse die Kosten, wenn der Betroffene einen Pflegegrad und/oder eine Behinderung nachweisen kann, erklärt Schmid.
Katharina Wagner hat beides, Pflegestufe drei und einen Behindertenausweis. Doch während sie ihre Wohnung im Obergeschoss schon vor Jahren barrierefrei umbauen ließ, kann sie das beim Treppenhaus nicht ohne Weiteres: Da haben auch die Miteigentümer mitzureden. Und das kostet Zeit.
Versammlung wurde wegen Corona verschoben
Das liegt am Coronavirus, erklärt Axel Nieburg als Vorsitzender der Hegau-Baugenossenschaft auf SÜDKURIER-Nachfrage. Katharina Wagner habe im Winter den Bedarf angemeldet und das Thema hätte im Frühjahr bei einer Eigentümerversammlung besprochen werden sollen. Dann veränderte das Coronavirus die Pläne. „Die Rechtslage ist klar, wir müssen warten“, sagt Nieburg und begründet: „Wir als Hausverwaltung können und dürfen das nicht entscheiden.“ Ohne Zustimmung der Eigentümer dürfe das gemeinsame Treppenhaus nicht verändert werden. Dabei gehe es nicht um die Kostenübernahme, sondern Kompetenzen.
Hausverwaltung vermutet: Institut hat wirtschaftliche Interessen
Die Hausverwaltung habe den Betroffenen angeboten, selbst das Risiko zu übernehmen und ohne Einverständnis einen Handlauf montieren zu lassen: Wenn die Hausgemeinschaft diesen ablehnt, müsste er rückgebaut werden. Das bedeute im Zweifelsfall zusätzliche Kosten und sei für Wagners und das Institut nicht in Frage gekommen. Das untermauert für Axel Nieburg den Grund für seine Verärgerung über das Engagement des Instituts für Treppensicherheit aus Gottmadingen: „Da stecken rein ökonomische Interessen dahinter.“
Tatsächlich führt Siegfried Schmid ein Unternehmen für Treppenläufe. Ihm gehe es aber um die Familie Wagner, betont er. „Ich will keinen Streit, sondern eine Lösung des Problems. Es geht hier nicht um einen Handlauf, sondern um einen Menschen.“ In seinen Augen sind die bürokratischen Hürden zu hoch, er befürchtet: Wenn nach der Eigentümerversammlung erst verschiedene Angebote eingeholt werden müssten, könne sich eine Entscheidung über Jahre ziehen.
Umziehen ist für sie keine Option
Zurück bleibt vorerst die 75 Jahre alte Katharina Wagner, die mit ihrem Mann Josef auf eine Lösung wartet. Ein Umzug kommt für die Rentner nicht in Frage: „Wo sollen wir denn hin?“, fragt sie achselzuckend. Das Haus in der Hohenkrähenstraße ist seit Jahrzehnten ihr Zuhause. Die Nachbarn, die während des Pressegesprächs vorbeikommen, grüßen und bieten Hilfe beim Einkaufen an. Viele der Nachbarn sind jünger, merkt Katharina Wagner an: „Wenn man jung ist, merkt man nicht, wie viele Treppen das sind.“ Früher habe sie sich auch über ihre Mutter gewundert, wenn die sich über Schmerzen beklagte. „Da habe ich mir gedacht, was hat sie denn immer?! Inzwischen weiß ich es.“ Schon vor Jahren habe sie einen Handlauf angeregt, allerdings sei der nie beschlossen worden. Damals sei aber noch eine andere Hausverwaltung zuständig gewesen.
Einen neuen Termin für die Eigentümerversammlung gibt es noch nicht.