Ulrike Blatter

In der Adventszeit ist der Stress in einer Konditorei besonders groß. So auch an jenem Morgen, als der Azubi im ersten Lehrjahr um vier Uhr morgens die Backstube betritt. Kaffeeduft liegt in der Luft und der Azubi ist seit Kurzem schwer verliebt und wegen starker Hormonschwankungen ständig übermüdet. Aber das interessiert den Meister wenig. Er ist schon längst bei der Arbeit und steckt bis über die Ellenbogen in einem samtigen Teig. „Na wird‘s bald“, ruft er und deutet mit der Kinnspitze zur Arbeitsfläche: Zwanzig Sachertorten stehen dort aneinandergereiht. Die Torten dieser Konditorei sind legendär und werden in der Weihnachtszeit zusätzlich zum ‚Sacher-Schriftzug‘ mit kleinen Marzipantannen verziert und bundesweit verschickt.

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Gestern hatte der Azubi die Böden geteilt, mit Rum getränkt und mit fruchtiger Aprikosenkonfitüre überzogen. Nun fehlen nur noch Guss und Garnierung. Mit halb gesenkten Augenlidern macht er sich ans Werk – und siehe da: Es gelingt! Eine Torte nach der anderen überzieht er mit viel Gefühl, sodass nach kurzer Zeit zwanzig köstlich duftende Sachertorten vor ihm stehen. Der Meister hat sich inzwischen aus der Umklammerung des Teiges befreit, kommt vorbei und nickt wohlwollend. Jetzt fehlt nur noch die Schrift. Der Junge kehrt zurück zur ersten Torte und macht sich ans Werk. Mit einer schokoladengefüllten Spritztüte reiht er schwungvoll einen Buchstaben an den anderen. Das große „S“ gelingt ihm jedes Mal besonders schön. Backstube, Kuchenduft und die Musik aus dem Radio treten in den Hintergrund – die Arbeit hat etwas Meditatives und der Junge versinkt in eine Art Trance. Er träumt sich zurück nach Hause, wo seine Freundin Sarah vielleicht gerade aufsteht. Die letzte Nacht war die bisher schönste seines Lebens, aber er ahnt, es werden noch viele schöne Nächte folgen. Und Tage … und das Weihnachtsfest … und dann …

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Er lächelt, malt weiter und seine Hand ist ganz ruhig, wenn er das große „S“ malt und danach verschnörkelte Buchstaben schreibt. Da schaut ihm der Chef über die Schulter und lacht auf: „Jetzt schau mal, was häsch du da für einen Blödsinn g‘schriebe!“ Erschrocken blickt der Lehrling hoch. Sein Blick wandert zwischen dem Gesicht des Meisters und der schokoladig glänzenden Tortenoberfläche hin und her. „Ich verstehe nicht“, stottert er. Aber auf einmal wird er wach. Auf zwanzig Torten steht mit wunderbarer Schnörkelschrift zweihundertmal anstelle des altbekannten Schriftzuges „Sacher“: Sarah. Sarah. Sarah. „Wenn wir nachher noch die Bäumle draufbäppt hänt, dann merkt das kein Mensch“, prustet der Meister. „Weisch was? Du nimmsch deiner Herzallerliebsten ein Stückle von der ‚Sarah-Torte‘ mit. Sell isch besser als Blumen, glaub mir. Aber morgen“, er droht scherzhaft mit dem Finger, „morgen erscheinsch du mir ausgeschlafen.“

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