Herr Stein, Theater ist nicht alles. Womit beschäftigen Sie sich, wenn Sie nicht auf der Bühne oder am Set stehen?
Mit meiner Familie. So viel wie möglich Blödsinn machen und lachen. Soll gesund sein. Und wenn ich mir mehr Zeit nehmen würde, würde ich Sprachen lernen, reisen, segeln und schreiben.
Springen wir zurück: Wer und was veranlasste Sie zum Beruf des Schauspielers? Sie haben ja auch noch eine Ausbildung zum Goldschmied absolviert. Und was interessiert Sie besonders an der Regiearbeit?
Der Mensch mit seinen Gedanken, Gefühlen, Handlungen interessierte mich schon immer extrem. Zu meiner beruflichen Wunschliste zählte auch Psychologie und Medizin. Ich wusste lange nicht, wie ich dem Menschsein am nächsten komme. Und abgesehen davon, dass ich der Klassenclown war, hatte ich keinerlei Interesse an Schauspiel. Literatur und Philosphie ja, aber die schulischen Pflichtbesuche im Theater fand ich irgendwie doof, das Spiel meistens unnatürlich und langweilig. Irgendwann ging ich für ein halbes Jahr als Backpacker nach Südamerika, um mir über meine Zukunft klar zu werden. Im Anschluss machte ich eine Lehre, um mein Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen. Danach konnte ich endlich das machen, was mich faszinierte: den Menschen studieren und meine Erfahrungen umsetzen. Die Regiearbeit kann man nicht aus Büchern destillieren. Sie muss durchlebt sein. Jede emotionale Ausprägung, die Kenntnis der verschiedenen Charakter- und Daseinsformen basiert auf der eigenen Erfahrung. Erfahrungen, die manchmal auch schmerzhaft sind, aber durchlebt sein müssen, weil damit ein tieferes Verständnis für die Zusammenhänge von Emotionen und Verhaltensmustern erlangt werden kann.
Ein Millionenpublikum hat Sie als Schauspieler in der Rolle des Leiters der Kriminaltechnik in den SWR-Tatorten gesehen. Als Regisseur treten Sie eher in den Hintergrund. Welche Position gefällt Ihnen besser? Die vor der Kamera oder hinter der Szenerie?
Ich finde beide Situationen spannend. Sie befruchten sich gegenseitig. Als Regisseur verstehe ich viel besser, was die Schauspieler brauchen, wenn ich selbst immer wieder auf der Bühne oder vor der Kamera stehe. Und als Schauspieler kann ich vielleicht besser erahnen, was die Regie will. Aber auch als Schauspieler ist für mich der Probenprozess das Spannendste. Die Figurenentwicklung, die Psychologie, die Beziehungen mit den anderen Rollen und das non-verbale Spiel – also die Gedanken und die Entwicklungsschritte der Figur – ist wie die Erschaffung eines Lebens.
Ihre Arbeit verlangt viel Flexibilität, alleine durch die verschiedenen Spielstätten. Die Verbindung zu Ihrer Heimat Singen haben Sie aber nie abgebrochen. Als Regisseur waren Sie immer wieder in der Region tätig. Unter anderem als Regisseur des gigantischen Freilichtspiels „No e Wili“ in Stein am Rhein. Doch zuletzt konnte das Singener Publikum Ihre Arbeit in einer ganz neuartigen, multimedialen Produktion über einen blinden Opernsänger erleben. Was ist anders gegenüber klassischer Regiearbeit an „Comeback im Gegenlicht“, das jetzt in einer Tournee die deutschen Bühnen erobert?
Die szenischen Interaktionen und Beziehungen zwischen Schauspieler und Sänger war eine besondere Herausforderung, weil die Sänger nicht schauspielerisch ausgebildet sind und ich erreichen wollte, dass keine der Figuren gegenüber der anderen abfällt. Wir haben unter anderem an einem reduzierten und trotzdem spannungsvollen und authentischen Sprachausdruck gearbeitet.
Was hat Sie besonders an der Produktion gereizt?
Menschen in Extremsituationen zu porträtieren ist per se spannend, dann aber mit dem Protagonisten arbeiten zu können, der diese Geschichte des langsam erblindenden Opernsängers tatsächlich erlebt hat, ist natürlich ein großes Geschenk. Auch die hohe professionelle Qualität und der künstlerische Anspruch aller Beteiligten ist ein Wonnebad für jeden ambitionierten Regisseur. Wir arbeiteten neben dem Licht mit vier verschiedene Elemente: Musik, Gesang, Schauspiel und Videos. Das alles zu einem homogenen Ganzen zu formen, ist anspruchsvoll, macht aber auch sehr viel Spaß.
Mit dem Autor und musikalischen Leiter dieser Produktion Fabian Dobler begegnen wir ja einem zweiten Singener. Kannten Sie sich schon früher – quasi aus dem Sandkasten – oder haben Sie sich erst über die künstlerische Arbeit kennengelernt?
Obwohl wir einem ähnlichen Jahrgang angehören, sind wir uns erst im Erwachsenenalter begegnet und haben uns während der Arbeit kennen und schätzen gelernt. Aber das mit dem Sandkasten holen wir bei Gelegenheit nach ...
Wie funktionierte die genreübergreifende Zusammenarbeit? Gab es verschiedene Vorstellungen davon, wie das multimediale Stück am Ende aussehen sollte?
Unsere Ideen von Ästhetik, Präzision und vor allem Authentizität decken sich. Wir ergänzen uns sehr gut. Wir bewegen uns beide durch die jahrelange Erfahrung recht sicher in den verschiedenen Kontexten von Theater und Musik und wissen, wie man diese zusammenführt. Fabian hat Erfahrung mit Theaterproduktionen und ich mit Musiktheater. Und es hilft, wenn man Noten lesen kann. Fabian als Initiant dieses Projekts ließ mir freie Hand, auch was textliche Änderungsvorschläge betrifft. Das ist zum einen ungewöhnlich, gerade wenn der Autor gleichzeitig künstlerischer Gesamtleiter ist; zum anderen ist dieses gegenseitige Vertrauen eine wertvolle Basis zur Zusammenarbeit. Wir haben im Vorfeld viel über unsere Vorstellungen und Ideen gesprochen und – ja, zuweilen hatten die Gespräche fast einen symbiotischen Charakter.
In der Singener Vorstellung, kurz nach der Uraufführung in Leonberg, hat Fabian Dobler eine Sequenz unterbrochen und um einen Neuanfang gebeten, weil die Videoeinspielung und die Musik nicht synchron waren. Das lässt vermuten, dass gerade diese Übergänge zwischen Live-Musik, Theater und Film besonders heikel sind. Sehen Sie das auch so? Was sind die größten Herausforderungen für dieses neue Genre?
Genau so ist es. Je mehr Beteiligte Einfluss nehmen, desto höher ist die Fehlerquelle. Und je mehr Komponenten dazu kommen, desto größer die Gefahr, dass eine ausfällt oder nicht harmoniert. Aber diese Komplexität gibt es in vielen Bereichen, denken Sie an eine Operation im Krankenhaus oder einen Flug von A nach B ...
Offenbar stimmt die Chemie zwischen Ihnen. Sind weitere Kooperationen geplant und wie darf man sich die vorstellen?
Es sind nicht nur weitere geplant, sondern bereits in der Entstehung. Fabian komponiert die Musik zu meiner nächsten Inszenierung, den Tell-Spielen in Interlaken.

Bei den Tell-Festspielen im Schweizerischen Interlaken führen Sie Regie. Verraten Sie uns, was die Zuschauer dort erwartet?
Die Tell-Spiele sind das größte und älteste Freilichtspiel der Schweiz mit einer über 100-jährigen Tradition und 2500 Zuschauerplätzen. Zum einen verpflichtet das natürlich zu einer eher klassischen Interpretation des Stoffes; zum anderen spiele ich aber gerne damit, zu irritieren und Erwartungen zu brechen. An erster Stelle steht für mich, den Zuschauer auf welche Art auch immer zu berühren und authentisch zu sein. Schiller hat den Tell sehr dramatisch und existenzialistisch geschrieben. Als Kontrapunkt und Rahmenhandlung habe ich ihn und seinen Freund Goethe eingebaut, der damals die Regie bei der Uraufführung in Weimar übernommen hatte. Die beiden streiten, diskutieren, philosophieren. Und die Zuschauer haben bestimmt auch etwas zu lachen. Über 150 Mitwirkende werden auf der Bühne sein, etliche Pferde und andere Tiere.
Vor knapp zehn Jahren haben Sie Ihren Lebensmittelpunkt nach Bern verlegt. In Ihrer Arbeitsbiografie wird auch erkennbar, dass Sie sehr viel auf Schweizer Bühnen sowohl als Schauspieler, Performance-Künstler sowie als Regisseur aktiv sind. Ist das Schweizer Publikum aufgeschlossener oder experimentierfreudiger als das deutsche?
Das glaube ich nicht. Vorbehalte sind international und haben meist mit Angst zu tun. Man kann nicht allen gerecht werden und der Gedanke zu gefallen führt zu Mittelmäßigkeit. Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man seiner Intuition vertrauen muss – dann entstehen neue Formen, neue Bilder, neue Gedanken. Sonst läuft man Gefahr, zu kopieren und massenkompatibel zu sein – und das zerstört jede Kreativität.
Hat Ihre Liebe zur Schweiz etwas mit Ihrer Heimat im Grenzraum zu tun?
Ich liebe meine drei Kinder, meine Freundin (die Schweizerin ist), gutes Essen, den Hegau mit seinem satten Grün, die Alpen und noch ganz viel mehr. Aber künstliche Gebilde wie Länder, die irgendjemand irgendwann meistens mit Hilfe von Gewalt geschaffen hat, finde ich eher fragwürdig als liebenswert. Grenzen sind das Gegenteil von Freiraum.
Welche Rolle spielen historische Stoffe in Ihrer Arbeit?
Ich arbeite eigentlich sowohl mit historischen als auch fiktiven Stoffen. Neben eigenen entwickelten Stücken liegen mir die Klassiker besonders am Herzen, weil es mir so vorkommt, als wäre die Sprache noch vielfältiger, noch farbiger gewesen und in Zeiten der Pathos-Allergie möchte ich genau diese etwas sperrige Sprache so interpretieren, dass die Zuschauer sie verstehen. Und dazu muss man den Text durchdringen und erforschen. Eine tolle Arbeit. Mein 19-jähriger Sohn hat kürzlich den Melchthal aus Tell gelesen, und ich wollte Textstellen streichen, um den Monolog zu kürzen – aber er bestand auf ihnen, weil sie etwas Wichtiges aussagen. Also ist der Text nicht verstaubt, sondern nur ungewohnt. Das ist aber Herbert Fritsch mit seinen Stücken auch! Die Sprache ist Vielfalt und diese Vielfalt zugänglich zu machen, ob modern, klassisch, absurd oder experimentell, ist meine Leidenschaft. Ein guter Text braucht keine Verstärkung, nur den klaren Gedanken, das klare Gefühl.
Wann ist eine Theaterproduktion Ihrer Meinung nach besonders gelungen? Was braucht es, um Atmosphäre zu schaffen?
Wenn sie berührt. Wenn sie etwas auslöst, wenn Fragen aufgeworfen werden, das Denken angeregt wird, etwas ausgesagt wird und die Lachmuskeln gekitzelt werden. Wenn sie nicht banal ist. Atmosphäre erzeugen kann man mit den unterschiedlichsten Mitteln, ich wüsste nicht wo beginnen ... Vielleicht bei der Stille. Ich wechsle sehr gerne Stille und ruhige Momente mit Tempo und Action ab, das führt zu einer spannenden Dynamik. Pausen sind für mich keine leeren Zeiteinheiten, sondern mit Gefühlen und Gedanken gefüllte Momente. Eigentlich beeinflusst alles auf der Bühne die Atmosphäre. Ist man sich diesen Umstandes bewusst, kann man die verschiedenen Elemente gezielt einsetzen.
Wie erreichen Sie als Schauspieler Ihr Publikum am besten?
Mit Ehrlichkeit. Ein technisch spielender Schauspieler kann begeistern, aber nur das echte Spiel kann berühren und damit eine nachhaltige Wirkung erzielen. Wohlgemerkt: Eine dezent und klug eingesetzte Technik ist nicht nur bereichernd, sondern manchmal auch notwendig. Aber ohne die Authentizität bleibt sie eine äußerliche Form.
Vermutlich sind Sie sehr viel unterwegs. Wie geht Ihre Familie damit um?
Es braucht sehr viel Verständnis. Meine Partnerin gibt mir Rückendeckung, wofür ich sehr dankbar bin. Bei längeren Engagements kommt die Familie teilweise mit. Aber diesen Herbst bin ich zum Beispiel zwei Monate an der Shakespeare Company in Bremen.Da bewege ich mich hart an der Toleranzgrenze. Aber oft bin ich im Großraum Bern und bin dann wie jetzt die kommenden Monate tagsüber meistens zu Hause. Mein erwachsener Sohn kennt auch nichts anderes und hat die Spielfreude und das Herumreisen sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen.
Zur Person
Oliver Stein (48), geboren in Singen, studierte in München Schauspiel und war auf verschiedensten Bühnen Europas zwischen Salzburg und Minsk sowie in Fernsehproduktionen tätig. Immer wieder wechselt er das Fach und führt auch Regie. Darüber hinaus ist er als Coach, Sprecher, Kommunikationstrainer und künstlerischer Berater tätig. Er sagt von sich: "Ich brauche wenig Urlaub, weil ich meine Arbeit liebe und deshalb mehr Zeit für alles habe". Seine Familie ist seine Kraftquelle. Sein 19-jähriger Sohn lebt in Berlin. Mit seiner Partnerin hat er zwei Kinder im Alter (drei Jahre; drei Monate alt) und lebt in Bern. In der Freizeit beschäftigt er sich mit der Familie, Natur, Segeln, Skifahren, Steine auf den Kopf stellen und schreiben. Seit 20 Jahren macht er Yoga und liebt Abenteuer wie Klettern. (gtr)