Vera Dehle-Thälmann rückt ab. Die Enkelin von Rosa und Ernst Thälmann sowie Tochter von Irma Vester (geborene Thälmann) will nicht in Hörweite bleiben, als am Dienstag bei der Verlegung von Stolpersteinen die Folterpraktiken der Nazis geschildert werden. Die 58-Jährige hält die Schilderungen für notwendig, aber vor knapp 100 Menschen will sie jetzt nicht in Tränen ausbrechen. Wie sehr sie das Schicksal der Mutter und der Großeltern bewegt, zeigt sich auch an der langen Anreise. Vera Dehle-Thälmann lebt in der Nähe von Berlin und fährt eigens zur Verlegung der Stolpersteine nach Singen.

Hier, in der Rielasinger Straße 180, lebten die Mutter und Großmutter von Vera Dehle-Thälmann, bevor sie 1944 von den Nazis verhaftet, für den Tod im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück bestimmt wurden und nur mit knapper Not überlebten. Ernst Thälmann war bereits 1933 verhaftet worden, er wurde 1944 im KZ Buchenwald ermordet. Auch für ihn wurde ein Stolperstein verlegt, um auf diese Weise die Erinnerung an das Schicksal der Familie zu bewahren.
Neben dem Grauen von damals und dem heutigen Bedürfnis des Gedenkens gibt es eine dritte Geschichte. Es ist die des AfD-Politikers Wolfgang Gedeon. Im Vorfeld der Stolperstein-Verlegung brachte der Landtagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Singen/Stockach in einem Schreiben seine Bedenken gegenüber einer "Erinnerungsdiktatur" zum Ausdruck. Er rief Oberbürgermeister Bernd Häusler und den Gemeinderat zur Beendigung der Stolperstein-Initiative auf, die Bevölkerung solle sich widersetzen. Zumal mit dem Stolperstein für Ernst Thälmann verbindet Wolfgang Gedeon große Befürchtungen: Da Ernst Thälmann in der DDR als Held verehrt worden war, würden mit der Gedenkaktion nicht nur die Opfer der roten Diktatur verhöhnt, sondern mit ihr ein Beitrag geleistet, "die Bundesrepublik Deutschland in eine neue Groß-DDR zu verwandeln".

Die Forderung nach Abschaffung der Stolperstein-Aktionen stößt selbst in der AfD auf Ablehnung. Die AfD-Landtagsabgeordneten Daniel Rottmann, Stefan Herre, Klaus Dürr und Lars Patrick Berg sprechen sich in einer Presseerklärung "für ein würdiges Gedenken an die Opfer von Gewalt, Terror und Diktatur" aus. Klaus Dürr und Lars Patrick Berg verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass sie an den offiziellen Erinnerungsveranstaltungen des Landtages teilgenommen haben, und warnen vor dem Vergessen der Opfer von NS-Diktatur und Kommunismus.
Der Fall beschäftigt inzwischen auch den geschäftsführenden Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD). Wie es in einer am Dienstag veröffentlichten Agenturmitteilung heißt, weist der Minister die Kritik des AfD-Politikers Wolfgang Gedeon an Stolpersteinen zum Gedenken an NS-Opfer scharf zurück. "Umso lauter ihr Ende gefordert wird", so wird der Minister zitiert, "desto mehr Stolpersteine brauchen wir."

In Singen ringt man derweil um die richtigen Worte auf das Schreiben von Wolfgang Gedeon, der sich darin auch in der Pose der Empörung angesichts eines Opfergedenkens gefällt, bei dem "täglich Hunderte von Menschen über Steine mit Opfernamen trampeln". Der Sprecher der örtlichen Stolperstein-Initiative, Hans-Peter Storz, stufte dies wegen der bekannten Gesinnung von Wolfgang Gedeon bei der Gedenkfeier als Niedertracht ein.
Singens OB Häusler geht es ähnlich: Wolfgang Gedeon habe das von der Verfassung garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung genutzt und diese Position nehme er zur Kenntnis. "Zugleich kann ich als Oberbürgermeister seine geäußerte Abneigung gegenüber unserer Erinnerungskultur nur schwer ertragen." Die Stadt steht dabei ausdrücklich auch hinter dem Stolperstein für Ernst Thälmann. OB-Stellvertreterin Ute Seifried betonte, dass neben der Erinnerung an das Nazi-Opfer Ernst Thälmann zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit dem Politiker beabsichtigt sei.
Ernst Thälmann
Geboren 1886 in Hamburg, zählt Ernst Thälmann zu den bedeutsamen Politikern der Weimarer Republik. Er genießt in der Arbeiterschaft größten Respekt, von 1925 bis zu seiner Verhaftung durch die Nazis 1933 ist er Vorsitzender der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Er vertritt seine Partei von 1924 bis zur Parlamentsauflösung 1933 im Reichstag und gilt als Anhänger des stalinistischen Kurses. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus vereinnahmt die DDR Ernst Thälmann für ihre Zwecke und setzt ihm zahlreiche Denkmäler.
