Herr Welsch, Sie haben vier Jahre an dem Film "Der Chronist" gearbeitet. Was hat Sie in dieser Zeit am meisten beeindruckt?

Willi Waibels Haltung in Hinsicht auf Mut, Genauigkeit und Seriosität. Er riskierte ja Kopf und Kragen mit seinen Recherchen. Für mich, der 1969 geboren ist und nicht mehr in Singen lebt, ist es keine Heldentat, einen Film über den Nationalsozialismus und die Verstrickung der Deutschen und Schweizer Industrie mit den lukrativen Aufträgen für die Wehrmacht zu drehen. Aber für Willi Waibel, der ja als Angestellter dieser Firmen gearbeitet hat, war diese Aufarbeitung nicht ohne Risiko – gerade zur Zeit der alten Bundesrepublik. Er durfte sich keinen einzigen Fehler in seiner Aufarbeitung erlauben. Man kann von ihm nur lernen. Er ist für mich auch deswegen ein Vorbild, weil wir in Zeiten einfacher Wahrheiten und den schnellen Klicks auf Facebook leben. Wir müssen jetzt erst recht lernen, über lange Zeit mit Geduld und aller Seriosität den Dingen auf den Grund zu gehen.

Dies ist Ihr dritter Dokumentarfilm. Was gehört zum Handwerkszeug, um so einen Film zu machen? Gibt es Unterschiede zu Kurzfilmen oder Spielfilmen?

Sie müssen vor allem Erfahrungen aus erster Hand und etwas Neues zum bekannten Stoff liefern. Der Film kommt buchstäblich in letzter Minute und hält die Erzählungen von 90-jährigen Frauen fest aus einem Land, das die wenigsten bereist haben. Ebenso unbekannt war für mich die Aktion Zamo, wie sie unser Zeitzeuge und seine Familie in Polen erlebt haben, die zu der Vertreibung und Zwangsarbeit geführt haben. Es war ein Zufall, dass ausgerechnet er der letzte noch lebende Zwangsarbeiter aus Singen ist. Diese Aktion Himmlers in der Umgebung von Zamo in Polen kannte ich vorher nicht. Vielleicht hat man im Dokumentarfilm etwas mehr Freiheit, sich von der Realität überraschen zu lassen.

Gab es noch weitere Erkenntnisse bei der Filmproduktion?

Ja, da sind zum Beispiel die Vorkommnisse in der Ukraine: Wer hat schon die Zwangskollektivierung, den Holodomor, den Stalinismus, die Verschleppung durch die NS-Schergen nach Deutschland, die oft unmenschliche Lagerhaltung in Deutschland, die Rückkehr mit den Demütigungen in der Sowjetunion und die wirtschaftlichen Zumutungen im Niedergang der Sowjetunion in einem einzigen Leben erfahren müssen? Diese Ansammlung und Zumutung von Erfahrung streicht ihnen jeder Redakteur aus einem fiktionalen Drehbuch; wir haben mit der freien Erzählung unserer Protagonistinnen so die Geschichte in diesen Ländern wenigstens streifen dürfen.

Warum haben Sie sich auf das Experiment "Der Chronist" eingelassen?

Wegen Willi Waibel, der mir durch seine mutige und unaufgeregte Art selbst Mut gemacht hat. Das verpflichtet.

Wie stellt man sein Filmteam zusammen, wie überzeugt man die Mitarbeiter am Set?

Das war kein Problem. Ich bin froh, dass so gute Leute aus der Ukraine, Polen und Deutschland dabei waren.

Sie waren wegen diesem Film auch mehrmals in der Ukraine. Wie geht es dem Land wirklich? Welchen Eindruck haben Sie?

Wir sind gleich 2015 nach Kobeljaki gefahren. Mich hat die Gelassenheit der Menschen in dem Land beeindruckt, in dem zu diesem Zeitpunkt niemand wusste, wie sich der Krieg in ihrem Land entwickeln würde. Wenig später habe ich dann Schriftsteller auf einer Reise durch den Donbass begleitet. Das vergisst man so schnell nicht. Es sterben nicht mehr so viele Leute pro Woche wie in den ersten beiden Kriegsjahren, als es ein offener Eroberungskrieg war. Aber es gibt nach wie vor bis zu 500 Waffenstillstandsverletzungen pro Tag und die Zumutungen für die Zivilbevölkerung in der unmittelbaren Kriegszone sind nach wie vor unerträglich. Einmal ganz zu schweigen von den rechtlosen Zuständen in den von Russland besetzten Gebieten der sogenannten "Volksrepubliken" im Gebiet von Donezk und Ludansk. Ich verstehe nicht, warum es immer wieder Stimmen gibt, die die Sanktionen der EU gegen Russland aufheben wollen. Man muss den Druck aufrechterhalten.

Haben Sie persönliche Erlebnisse?

Auf unserer Reise nach Kobeljaki fuhr uns ein junger Taxifahrer in Kiew. Er rechnete mit dem Einberufungsbescheid in den nächsten Tagen. Er war absolut cool und meinte, Hauptsache, es ändert sich etwas nachhaltig in dem Land, damit es seiner Familie und der nächsten Generation besser geht. Ich meine, die Leute sind 2013 und 2014 nicht aus einer Protestlaune auf den Maidan zum Demonstrieren gegangen. Vor allem die jungen oder gleichaltrigen Leute werden nicht aufgeben, bis es faire und moderne Bedingungen mit weniger Korruption in der Ukraine geben wird, so wie sie bei uns selbstverständlich sind. Auch wenn das eine Sisyphusarbeit bleibt. Es geht um Partizipation und die Überwindung alter postsowjetischer Seilschaften. Hut ab. Sie verdienen unsere volle Unterstützung in dieser schwierigen Transformation.

Ihr zweiter langer Dokumentarfilm "Landschaftsgeschichten" wurde ja auf arte gezeigt. Warum haben sich Fernsehsender wie der SWR nicht für den Chronist interessiert?

Es bleibt ein offener Konkurrenzkampf. Manche Redaktionen, so meine Vermutung, haben eben zum Thema Nationalsozialismus in den letzten 20 Jahren schon einiges auf dem Tisch gehabt. Das Thema Zwangsarbeiter ist nicht neu. Schade nur, dass sie das Thema Zivilcourage mit dem mutigen und nachhaltigen Engagement von Willi Waibel nicht so bewertet haben, wie es in Singen bei der Premiere ja fulminant gewürdigt wurde. Ich habe kein Problem, jüngeren Kollegen mit schnittigen Formaten in diesem Verteilungskampf Sendeplätze zu gönnen. Ich frage mich aber, wie solche Vorbilder wie Willi Waibel den Weg sonst ins Fernsehen schaffen sollen, als über Langzeit-Dokumentationen. Davon gibt es im deutschen Fernsehen generell viel zu wenig. Auf die eine oder andere Kochshow könnte man ja verzichten. Man kann die Geschichte von Willi Waibel nicht in 30 oder 45 Minuten erzählen. Und man braucht die Zeit, den Gegenpart in der Ukraine und Polen ausführlich zu Wort kommen zu lassen, egal wie ungewohnt uns das erscheint.

Gab es Momente, wo das Projekt zu scheitern drohte?

Sie können es sich einfach nicht erlauben, den Film nicht zu Ende zu machen. Das wär dann Ihr letzter Film.

Wie geht es nun weiter?

Wir wollen einmal die Resonanz abwarten und testen, ob der Film auch überregional und in anderen Ländern ankommt. Wir hoffen aber vor allem, dass der Film auch längerfristig in der Region im Kino und in Schulen zu sehen sein wird. Wenn sich also jemand in den Schulen für das Thema erwärmen würde – Herr Da Rin von der Stadt Singen sammelt die Anfragen.

Wird es den Film mal auf DVD geben?

Wir arbeiten daran. Es ist nur die Frage, wann wir die DVD nach der Kino-Auswertung anbieten können, vermutlich in der zweiten Jahreshälfte 2019.

Fragen: Susanne Gehrmann-Röhm