Eine denkwürdige Sitzung. Das beschied Stadtrat Sigfried Lehmann, Fraktionssprecher der Freien Grünen Liste, der letzten Gemeinderatssitzung im Jahr 2020. Grund für die feierliche Stimmung war der Tagesordnungspunkt Nummer sieben. Das Bauprojekt Wohnen in Gemeinschaft, kurz WiGe, hat eine fertige Finanzierung und die Verträge mit der Stadt Radolfzell sind bereit für den Notar.

Wegweisendes Projekt für Radolfzell

Die private Planungsgemeinschaft möchte für die Realisierung eines Mehrgenerationen- und inklusiven Wohnprojekts Grundstücke für etwa 2,58 Millionen Euro – abzüglich des bereits bezahlten Optionsentgelts und ohne die Anschlusskosten an Nahwärme – von der Stadt abkaufen.

Für einige Stadträte ein Grund zur Freude. „Das Projekt ist wegweisend, es zeigt eine neue Form des Zusammenlebens auf“, lobte Bernhard Diehl, Fraktionssprecher der CDU.

Eigentlich sollten dort 75 Prozent Radolfzeller einziehen

Doch bevor der Vertrag nun unterzeichnet werden kann, bat die Investorengemeinschaft um eine kleine, aber doch interessante Änderung im Vertragstext. Bisher stand drin, dass die Belegung der Wohnungen zu 75 Prozent mit Personen, die in Radolfzell bereits wohnen oder dort arbeiten, zu erfolgen habe.

Nun wolle man dies gerne ändern und zwar soll die Quote an Radolfzellern oder denen, die hier arbeiten, auf 50 Prozent gesenkt werden, die andere Hälfte der Wohnungen solle mit Menschen aus dem Landkreis Konstanz belegt werden dürfen.

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Dies löste eine Diskussion darüber aus, wer echter Radolfzeller ist, wer einer werden darf und wie oft der Gemeinderat seine Meinung ändern darf.

Denn ganz und gar nicht in die Lobeshymnen über das WiGe-Projekt einstimmen wollte Walter Hiller von den Freien Wählern. Man habe für die Kriterien ohnehin schon vieles gelockert im Vergleich zu dem üblichen Prozedere bei der Vergabe von städtischen Bauplätzen.

„Wir müssen auch mal verlässliche Entscheidungen treffen.“Walter Hiller, Freie Wähler
„Wir müssen auch mal verlässliche Entscheidungen treffen.“Walter Hiller, Freie Wähler | Bild: Becker, Georg

Nun auch noch die Quote an Radolfzellern zu senken, könne er nicht mittragen. Susann Göhler-Krekosch (SPD) brachte den Aspekt ins Spiel, dass man auch Wohnraum für Berufsgruppen schaffen müsse, die man in der Stadt dringend bräuchte. „Wo soll uns denn dieser Lokalpatriotismus hinführen?“, fragte sie.

Hiller fordert verlässliche Entscheidungen

Für Hiller reines Wunschdenken: „Pfleger und Erzieher werden da kaum einziehen, das ist viel zu teuer“. Doch eigentlich störte Hiller noch etwas ganz anderes: dass der Gemeinderat schon wieder seine Beschlüsse ändert. „Wir revidieren uns ständig, wir müssen doch auch mal verlässliche Entscheidungen treffen“, beschwerte sich Hiller in der Sitzung.

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Dass hauptsächlich Radolfzeller in das gemeinschaftliche Wohnprojekt einziehen sollen, warf für Siegfried Lehmann die Frage auf, ab wann man eigentlich Radolfzeller sei. „Jeder der nach Radolfzell zieht, ist dann Radolfzeller“, so Lehmann.

Das habe ihn selbst damals als Kind „zutiefst verletzt“, dass er neu in der Stadt mit seinen Eltern nicht als richtiger Radolfzeller galt. Für ihn sei klar, die WiGe bediene einen Wunsch nach einer neuen Wohnform, abseits der klassischen Baugruppen.

Zuzug erfolgt aus ganz Deutschland

Martin Aichem (Freie Wähler) gab ganz allgemein zu Bedenken, dass der Wohnungsmarkt in Radolfzell nicht nur durch Zuzug aus dem Landkreis, sondern aus der gesamten Bundesrepublik belastet sei. „Wir haben knappe Ressourcen und sollten sie der Region zukommen lassen“, so Aichem.

Gisela Kögel-Hensen (Freie Grüne Liste) ermahnte erneut zum Umdenken. „Die Stadt wächst, die Welt wächst, wir müssen umdenken und uns für neue Ideen öffnen“, sagte sie. Neue Wohnformen seien dabei unabdingbar. In Radolfzell müsse endlich der „Schalter umgelegt werden“, so Kögel-Hensen.

„Jeder der nach Radolfzell zieht, ist dann auch Radolfzeller.“Siegfried Lehmann, FGL
„Jeder der nach Radolfzell zieht, ist dann auch Radolfzeller.“Siegfried Lehmann, FGL | Bild: Jarausch, Gerald

Nachdem Bernhard Diehl die für ihn „ideologisch geprägte Diskussion“ per Antrag schließen ließ, erklärte Oberbürgermeister Martin Staab, dass nach einem neuen EU-Recht Einheimische bei der Vergabe von Bauplätzen nicht mehr gänzlich bevorzugt werden dürften.

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In Markelfingen „Im Tal“ seien ein oder zwei Familien zum Zug gekommen, die nicht aus Radolfzell kämen und in der Nordstadt wurde gar kein Grundstück an Nicht-Zeller verkauft, so Staab. Mit großer Mehrheit ist der Finanzplan der WiGe vom Gemeinderat angenommen worden. Mit fünf Gegenstimmen wurde die Vergabequote an Einheimische auf 50 Prozent gesenkt.