Ergebnislos verhallte der Kandidatenaufruf unter den rund 800 geschäftsfähigen Mitgliedern. Seit der jüngsten Hauptversammlung hat der Turnverein Radolfzell weder einen ersten noch einen zweiten Vorsitzenden. Die ehemalige Vorsitzende Annette Neitsch verzichtete am Ende ihrer zweiten Amtszeit auf eine erneute Kandidatur. Ist ein Verein ohne einen Vorsitz, so kann das Amtsgericht auf Antrag einen Notvorstand bestellen. Ohne bliebe der Turnverein Radolfzell handlungsunfähig, denn laut Satzung können nur die Vorsitzenden eine neue Mitgliederversammlung einberufen.

Der TV Radolfzell möchte durch die im Vorstand verbliebenen Ressortleiter David Kilgus (Sport) und Marcel Jahn (Organisation) die Bestellung eines Notvorstands bei Gericht beantragen. Die Ressortleiter erklärten sich bereit, für maximal ein Jahr den Notvorstand zu bilden. Das gebe dem Verein Zeit einen neuen Vorsitz zu finden und die in der Versammlung vorgestellte Idee eines Geschäftsführers für den seit dem Jahr 1875 bestehenden Turnverein mit 1401 Mitgliedern umzusetzen.

Die Jahresberichte aus dem Vorstand des Turnvereins Radolfzell gaben ein hervorragendes Geschäftsjahr 2021 her. Trotz den scharfen Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie verzeichnete der Turnverein Radolfzell keinen Verlust seiner Mitgliederzahl. Ganz im Gegenteil: Seit Beginn der Pandemie im Jahr 2020 stieg die Zahl der Mitglieder um weitere 73 Freizeit- und Leistungssportler auf aktuell 1401 Mitglieder an. Auch die Bilanz fiel für das Jahr 2021 hervorragend aus. Nach einem Verlust von 361 Euro im Jahr 2020 erwirtschaftete der Turnverein im Vorjahr ein sattes Plus von 24.000 Euro – und damit fast das sechsfache aus vorpandemischer Zeit.

Annette Neitsch und Anja Meier (v.li.) stellten sich nicht erneut zur Kandidatur als Vorsitzende und Kassiererin im TV Radolfzell auf. ...
Annette Neitsch und Anja Meier (v.li.) stellten sich nicht erneut zur Kandidatur als Vorsitzende und Kassiererin im TV Radolfzell auf. Sie wurden in der jüngsten Hauptversammlung für ihre Arbeit gewürdigt. Katharina Kunz (rechts) wurde für ihre 75 Jahre andauernde Mitgliedschaft im Verein geehrt. Bild: Georg Lange

Was zuletzt umgesetzt worden ist

Unter dem Vorsitz von Annette Neitsch veranlasste der Vorstand einen Neubau für die Umkleide im Turnerheim, das Verlegen des Grillplatzes in Seenähe sowie den Bau einer Tischtennisplatte und einer Boule-Bahn auf dem Gelände des Turnerheims. Das Freizeitgelände wurde im Vorjahr in seiner Funktion mit denen von Strandbädern, Camping-Plätzen und Yachthäfen gleichgesetzt worden. Damit unterliegt es keine besonderen Auflagen aus einem FFH-Gebiet. Die Sperrung des Seeausläufers Markelfinger Winkel als ein Naturschutzgebiet konnte bisher aufgehalten werden. Derzeit werde ein Kompromiss im Regierungspräsidium erarbeitet, informierte Neitsch. Ein Schutzgebiet könnte sich zeitlich auf den Winter beschränken.

Aus Erfahrungen der Pandemie und der Unterbringung von Flüchtlingen in Sporthallen erhob sich beim Turnverein der konkrete Bedarf an zuverlässigen und verfügbaren Hallenplätzen. Ein Gutachten habe ergeben, dass der Turnverein für seine Zukunftsfähigkeit diese Plätze benötige, so Annette Neitsch: Bekomme der Turnverein eine Genehmigung für den Bau einer etwa 405 Quadratmeter großen Einzelhalle, so könnte sie nach der Neubewertung des Parkraumbedarfs auf dem eigenen Parkplatz realisiert werden.

Der alte Vorstand sprach sich einstimmig für die Bestellung eines Geschäftsführer für den Turnverein aus. Für seine 150-Jahr-Feier hat der TV Radolfzell bereits das Milchwerk reserviert. In der Hauptversammlung beschlossen die Mitglieder den Wegfall von Strafzahlungen für nicht geleistete Arbeitsstunden.

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Notvorstand statt eine kommisarische Leitung

Nach der erfolglosen Suche für den ersten und zweiten Vorsitz im Verein skizzierte Annette Neitsch den Weg für die Zukunft: Ganz bewusst habe sich der Vorstand für einen Notvorstand und gegen eine kommissarische Leitung entschieden. Denn 1400 Mitglieder würden von der Vereinsstruktur profitieren, erläuterte die ehemalige Vorsitzende. Und es müsse im Verein thematisiert werden, wenn deren Mitglieder kein Amt übernehmen wollen, so Neitsch: „Wenn Menschen sich nicht bereit erklären Ämter zu übernehmen, dann sterben die Vereine.“

Durch das Konstrukt Notvorstand habe der Verein nun eine Galgenfrist von einem Jahr, einen Vorstandsvorsitz zu finden und zu dessen Entlastung einen Geschäftsführer im Verein zu etablieren. Ein Arbeitskreis könnte in dieser Zeit dessen Position und Arbeitsfeld erarbeiten, verdeutlichte der Ehrenvorsitzende Axel Tabertshofer. „Wir müssen uns bei unserer Größe von der Vereinskultur verabschieden und hin zu einer Professionalisierung entwickeln. Da führt kein Weg vorbei“, vermittelte ein Redner in der Hauptversammlung: Es gelte das Ehrenamt im Vorstand zu entlasten und aus der Verantwortung zu nehmen. Der Turnverein sei von seiner Größe ein kleines Unternehmen, bei der man eine große Verantwortung tragen würde.

Ämter waren früher wie eine bürgerliche Adelung

Wie das Ehrenamt im Vorstand vor einem halben Jahrhundert in der Gesellschaft aufgefasst wurde, verdeutlichte Katharina Kunz im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Die 81-Jährige wurde auf der Versammlung für ihre 75 Jahre andauernde Mitgliedschaft im Turnverein ausgezeichnet. Sie nahm in ihrer Sportkarriere fünf Mal an den 100 Kilometer langen Biehler Lauftagen teil und erwarb zuletzt im Vorjahr 2021 mit einem Rennrad über 20 Kilometer ihr 55. Sportabzeichen in Gold. Die rüstige Seniorin sammelte für den Turnverein nahezu ein halbes Jahrhundert lang pro Quartal die Mitgliedsgebühren direkt an der Haustüre ein. Dafür fuhr sie eigens mit dem Fahrrad bis nach Öhningen oder mit Skiern nach Liggeringen.

Dass der Verein jemals keinen Vorstand hatte – daran kann sich die Seniorin nicht erinnern. „Es war ein Ehrenamt, wenn man im Vorstand war.“ Im Gespräch mit Katharina Kunz wurde deutlich, was man früher unter einem Ehrenamt verstanden hatte: „Es war eine Ehre in der Stadt, wenn man für einen Verein als Vorsitzender tätig war.“

Das Amt sei Zeichen großer Ehre gewesen. Und die Bürger hätten dies mit einer Ehrung bescheinigt. Ein Vereinsvorsitzender zu sein, glich einer Form bürgerlicher Adelung, bestätigte Kunz auf Nachfrage. Heute sei die Zeit eine andere. Männer wie Frauen seien durch ihre Berufe sehr strapaziert und wollen ihre Zeit lieber mit der Familie verbringen, so ihr Eindruck.