Mit einem Schiff wollte die Jüdin Alice Fleischel 1940 gemeinsam mit ihrem Sohn Günther vor den Nationalsozialisten nach Brasilien fliehen. Sie findet ein Schiff, das Hotel Schiff am Radolfzeller Bahnhofsplatz. Es wird für sechs Monate ein sicherer Hafen für die Verfolgte. Der gütige Wirt Strudel ist ihr einziger Kontakt zu anderen Menschen. Retten kann das Schiff sie jedoch nicht. Überaus einfühlsam zeigt das Theaterstück von Gerhard Zahner "Duft der Steine" die Tage der Alice Fleischel in ihrer Radolfzeller Zuflucht. Regisseurin Waltraud Rasch inszeniert die Geschichte puristisch, aber mit Liebe zum Detail. Vor ausverkauftem Haus feiert das Stück im Theater Zeller Kultur Premiere. Nach der Aufführung mischt sich beim Publikum Begeisterung mit einem Gefühl der Beklemmung. Gert Wolf, Sohn des Holocaust-Überlebenden Nathan Wolf aus Wangen, schüttelt im Anschluss Hände, sagt: "Genauso habe ich das Verschwinden meiner Großmutter erlebt." Eine adäquate Antwort darauf fällt schwer.

Es liegt vielleicht daran, dass die Figuren real waren, wirklich einmal existiert haben. Dass die Geschichte im Grunde, wenn auch die Dialoge frei erfunden sind, doch genau so passiert ist. Das Publikum ist für eine kurze Zeit Teil dieses Hotelzimmers, in dem die Jüdin Alice Fleischel Schutz findet und die Wochen und Monate zwischen Einsamkeit, Hoffnung und tiefer Verzweiflung erlebt. Anny da Silva, die Alice Fleischel verkörpert, schafft es hervorragend die eloquente, belesene Frau aus der Großstadt und liebenden Mutter in all ihrer Vielseitigkeit darzustellen. Geboren in Hamburg heiratete die reale Alice Fleischel den Verlagsbuchhändler Egon Fleischel.

Mit dem gleichnamigen Verlag war das Paar in Berlin in der Literaturszene überaus erfolgreich und bekannt. Immer wieder erinnert sich Fleischel im Stück an Begebenheiten aus der Vergangenheit, Begegnungen, auch enttäuschende, mit dem großen Schriftsteller Theodor Fontane. Davon erzählt sie ihrem Gegenstück in diesem Kammerspiel: dem Wirt Strudel, gespielt von Andreas Nitschke.

Steif, einfach und distanziert kommt Wirt Strudel daher. Von Großzügigkeit und Güte, dass er seinen jüdischen Gast nicht meldet, ihn wochenlang versteckt und versogt, will er gar nichts hören. In klaren und einfachen Sätzen bringt er seine komplette Existenz auf den Punkt: "Ich besitze ein Hotel, das ist mein Beruf. Ich habe Gäste". Immer wieder fragt er Fleischel nach der Ankunft des Sohnes, der wegen Blutschande in Hameln im Zuchthaus sitzt. Er bohrt aber nicht nach, setzt sie nie unter Druck. Er versteht sie einfach.

Die Bühne der Zeller Kultur lässt es zu, dass das Publikum Teil des Versteckspiels wird. Die Geräusche aus dem Nachbarzimmer, das Läuten der Münsterglocken vor dem Fenster verstärken das Gefühl des Eingesperrtseins. Untermalt mit herzzerreißendem Geigenspiel tanzt Alice Fleischel mit einem Männerhemd und bricht kurz darauf weinend zusammen. Man frag sich, woher diese Frau die Kraft nimmt, noch zu hoffen. Abschließend steht wieder Strudel, der einzige Lichtblick für Alice Fleischel, im Raum und hat ein Stück Zopf dabei. "Die Welt geht unter, doch am Tag zuvor wird noch Kuchen gebacken", sagt sie überglücklich. Es wird der letzte Auftritt der Alice Fleischel sein. Im Herbst 1940 werden die letzten in Baden lebenden Juden von den Nationalsozialisten in das KZ Gurs am Rand der Pyrenäen deportiert. Die reale Alice Fleischel ist eine von ihnen.

Umrahmt wird die Geschichte von Strudel und Fleischel von vier Figuren, die eingangs über das Stück und den Sinn diskutieren. Ileana Förster, Marie Glaser, Patrick Wennich und Estella Lloves versuchen, Steintürme zu bauen und stellen den Chor im Stile einer griechischen Tragödie dar. Gerhard Zahner hat den Chor in den Prolog vorgezogen. Die Steine sind Start- und Endpunkt der Geschichte.

Stadtjubiläum

Die Geschichte der Alice Fleischel ist historisch belegt. Das Stück hat die Zeller Kultur im Rahmen des Radolfzeller Stadtjubiläums zu 750 Jahre Stadtrecht auf die Beine gestellt. Finanziell unterstützt wurde die Produktion von Regisseurin Waltraud Rasch von der Wermer Messmer-Stiftung sowie anderen Sponsoren.

Die nächste Aufführung ist heute, Samstag, 23. September, um 20 Uhr in der Zeller Kultur, sowie 6., 7., 20. und 21. Oktober, jeweils 20 Uhr. Karten gibt es für 15 Euro, ermäßigt 10 Euro