Natalie Reiser

Psychische Erkrankungen haben in den letzten Jahren stark zugenommen. Die Fehltage am Arbeitsplatz aufgrund von psychischen Leiden seien innerhalb der letzten Generation um das Fünffache gestiegen, gibt die Statistik des BKK-Dachverbands "Gesundheit in Regionen" an. Im Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Reichenau will man neue Wege gehen, um Menschen zu helfen, die sich vom wachsenden Druck am Arbeitsmarkt überfordert sehen. Am Welttag für seelische Gesundheit lud das ZfP Reichenau Arbeitgeber zu einer Informationsveranstaltung ins Radolfzeller Innovationszentrum (RIZ) ein.

In der Vergangenheit sei man davon ausgegangen, dass die psychische Erkrankung eines Arbeitnehmers dessen Arbeitsplatz gefährde, erklärte Wolfgang Höcker, Pflegedirektor am ZfP Reichenau. Erfahrungen neuerer Zeit hätten jedoch gezeigt, dass Arbeitgeber in der Regel bemüht seien, die seelische Genesung eines Angestellten zu unterstützen, ihn als Arbeitnehmer zu behalten oder ihn nach einer Erholungsphase wieder in der Firma aufzunehmen. Die Bestätigung, die ein Arbeitnehmer an seinem Arbeitsplatz erhält, sei für einen psychisch kranken Menschen ebenso wichtig für seine Gesundung wie eine ambulante Therapie, führte Höcker weiter aus. Aus diesem Grund bietet das Lehrkrankenhaus Reichenau ein ambulantes berufliches Rehabilitationsangebot. Ein Programm, das Betroffenen im Frühstadium helfen soll. Bevor ihre seelische Erkrankung ein Stadium erreicht hat, das es ihnen unmöglich macht, ein Teil unserer Leistungsgesellschaft zu sein, erläuterte Daniel Nischk, Psychologe am ZfP. Er ist Leiter der Abteilung "Supported Employment", was übersetzt heißt: Eine begleitete Beschäftigung.

So nennt sich das auf fünf Jahre begrenzte Modellprojekt. Psychisch erkrankte Menschen, die eine psychiatrische Behandlung und die Zusammenarbeit mit einem Job Coach (beruflichen Trainer) akzeptieren, erhalten Unterstützung dabei, ihre Arbeitsstelle zu erhalten oder eine neue Anstellung zu finden.

Bettina Bärtsch, Psychologin an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, stellte in einem Vortrag zunächst einige Ursachen für den zunehmenden Druck auf Beschäftigte dar. Neue Technologien, die Globalisierung, ein schneller Informationsfluss stellten wachsende Anforderungen an Berufstätige. Wurden vor einigen Jahrzehnten in Stellenanzeigen notwendige Eigenschaften wie Fleiß, Freundlichkeit, Loyalität und Zuverlässigkeit betont, so werden heute autonome, flexible, innovative, kreative und mobile Arbeitnehmer gesucht. Auch zeitlich und strukturell seien Arbeitsplätze oftmals nicht mehr klar abgegrenzt. Von vielen Arbeitnehmern werde erwartet, universal einsetzbar zu sein. Bettina Bärtsch leitet in Zürich die Abteilung der "begleiteten Beschäftigung". Sie empfiehlt Arbeitgebern, die psychische Veränderungen bei ihren Angestellten feststellen, ein offenes Gespräch zu suchen und Betroffenen professionelle Hilfe zu empfehlen. In weiteren Schritten sei es wichtig, das Arbeitspensum anzupassen, eventuell die Arbeitsbedingungen zu verändern. Regelmäßige Rückmeldungen an den Betroffenen, welche Arbeiten er gut erledigt hat und wo Verbesserungen nötig seien, hält sie für wichtig. Arbeitgeber sollten keine falsche Schonhaltung einnehmen, sondern ehrliche Kritik äußern. Auch das Team sollte über die Situation informiert werden.

In einer anschließenden Podiumsdiskussion wurde dargestellt, in welchem Umfang die Bemühungen in der Praxis greifen. Daniel Nischk berichtete, 50 Prozent der am Projekt teilnehmenden Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen könnten wieder in den ersten Arbeitsmarkt eingegliedert werden. Annette Bortfeldt, Pflegemanagerin der Spitalstiftung Konstanz, sprach von guten Erfahrungen, die sie mit der Einstellung eines Job Coaches gemacht hat. Langjährige Pflegekräfte, die nicht mehr die volle Leistung bringen könnten, seien weiterhin in vielen Punkten wertvolle Mitarbeiter. Björn Graf Bernadotte schilderte die Schwierigkeit, als Arbeitgeber herauszufinden, welche Arbeiten ein erkrankter Mitarbeiter, der beispielsweise Maschinen handhaben muss, weiterhin durchführen kann, ohne sich und andere in Gefahr zu bringen. Des Weiteren müsse ein Arbeitgeber stets die Gerechtigkeit allen Arbeitnehmern gegenüber im Auge behalten.


Ein Modellprojekt

"Supported Employment" oder Begleitete Beschäftigung, ist ein Angebot des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Reichenau zur Unterstützung von Menschen mit psychisch bedingten Einschränkungen auf dem Weg der beruflichen Wiedereingliederung. Das zunächst auf fünf Jahre angelegte Modellprojekt wird durch die ZfP-Gruppe finanziert und in Kooperation mit der Universität Konstanz wissenschaftlich begleitet. Für die Teilnehmer ist es kostenfrei. Auch auf den Arbeitgeber kommen keine Zusatzkosten zu. Ein Job Coach unterstützt die Wiedereingliederung.

Kontakt: Zentrum für Psychiatrie Reichenau, Sandra Flügel, Telefon: 07531/977-8700 oder im Internet: www.zfp-reichenau.de

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